Nachfolgend ein Beitrag vom 27.9.2016 von Götsche, jurisPR-FamR 20/2016 Anm. 3

Leitsätze

1. Der auf Naturalunterhalt gerichtete wechselseitige Anspruch auf Familienunterhalt gemäß §§ 1360, 1360a Abs. 1, 2 BGB wandelt sich im Fall einer Pflegebedürftigkeit eines Ehegatten, der stationär in einer Pflegeeinrichtung betreut wird, in einen Anspruch auf Geldleistung.
2. Dieser Anspruch ist nicht durch den auf die beiderseitigen (Renten-)Einkünfte bezogenen Halbteilungsgrundsatz, sondern durch den – ggf. nach den Umständen des Einzelfalls zu erhöhenden – angemessene Selbstbehalt (hier: 1.200 Euro für das Jahr 2015) begrenzt.
3. Leistungen, die der unterhaltspflichtige Ehegatte im Rahmen seiner regelmäßigen Besuche für den persönlichen Bedarf des anderen Ehegatten erbringt, können in Höhe eines nach § 287 ZPO zu schätzenden Betrages als Naturalunterhalt bedarfsdeckend angerechnet werden.

A. Problemstellung

Welche unterhaltsrechtlichen Ansprüche bestehen zwischen zusammenlebenden Ehegatten, wenn ein Ehegatte pflegebedingt in ein Heim wechselt?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Beteiligten sind Ehegatten und streiten um Familienunterhalt. Der Ehemann befindet sich seit längerem in einem Pflegeheim. Die monatlichen Pflegekosten von rd. 2.900 Euro werden überwiegend von der Altersrente des Ehemannes (rd. 960 Euro) und den Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung (rd. 1.300 Euro) gedeckt, ein Teil bleibt ungedeckt.
Die Ehefrau bezieht eine gesetzliche Altersrente von zuletzt rd. 1.160 Euro und eine Betriebsrente von zuletzt rd. 138 Euro. Die Ehegatten sind hälftige Miteigentümer der von der Antragsgegnerin bewohnten Eigentumswohnung, einer 2-Zimmer-Wohnung von 62,5 qm. Die Antragsgegnerin erbringt monatliche Zahlungen auf die Sterbegeldversicherung des Antragstellers von 29,65 Euro sowie auf eine für sie bestehende Sterbegeldversicherung von 26,15 Euro. Für medizinischen Mehrbedarf macht sie einen Jahresbetrag von 170 Euro geltend. Sie besucht den Ehemann regelmäßig.
Das OLG Celle bejaht einen Familienunterhaltsanspruch des Ehemannes gegen die Ehefrau aus den §§ 1360, 1360a BGB. Ein Getrenntleben sei durch den Wechsel in das Pflegeheim nicht erfolgt. Bei Pflegebedürftigkeit eines Ehegatten sei abweichend vom Normallfall der Familienunterhalt in Bar zu leisten und die unterhaltsrechtliche Inanspruchnahme der Ehefrau auf Familienunterhalt nicht durch den Halbteilungsgrundsatz begrenzt.
Der Ehefrau sei aber nicht nur der Selbstbehalt für nichterwerbstätige Ehegatten, sondern der angemessene Selbstbehalt zu belassen, da mit der Pflegebedürftigkeit besondere Belastungen durch fortdauernde Besuche u.ä. verbunden sind, die sich nicht unmittelbar finanziell bemessen lassen. Das Oberlandesgericht berechnet auf diesem Wege einen Familienunterhaltsanspruch des Ehemannes von zuletzt rd. 360 Euro. Diesen Anspruch habe die Ehefrau durch die Zahlung der Beiträge für die Sterbegeldversicherung des Ehemannes von 29,65 Euro sowie die Aufwendungen für die täglichen Besuche von geschätzt 100 Euro monatlich (§ 287 ZPO) teilweise erfüllt. Eine unterhaltsrechtliche Obliegenheit, bei fortbestehender ehelicher Lebensgemeinschaft die auf gemeinsamen Entschluss beruhenden Versicherungen zu kündigen, bestehe nicht.

C. Kontext der Entscheidung

Die Leitsätze 1 und 2 entsprechen der aktuellen Rechtsprechung des BGH (Beschl. v. 27.04.2016 – XII ZB 485/14). Die Berücksichtigung von zu schätzenden Besuchskosten (Leitsatz 3) entsprechen den Interessen von Unterhaltsberechtigtem und Unterhaltspflichtigem wegen des wechselseitigen Bedürfnisses auf Pflege der familiären Verbundenheit. Daher werden z.B. im Elternunterhalt angemessene Aufwendungen, die dem unterhaltspflichtigen Kind für Besuche seines unterhaltsberechtigten Elternteils entstehen, insbesondere Fahrtkosten, unterhaltsrechtlich anerkannt (BGH, Urt. v. 17.10.2012 – XII ZR 17/11 – FamRZ 2013, 868). Der BGH sieht diese aber als leistungsfähigkeitsmindernd an, während das OLG Celle hier von einer Bedarfsdeckung ausgeht.

D. Auswirkungen für die Praxis

In der Praxis ist es im Falle des Familienunterhalts (wie auch des Elternunterhalts) empfehlenswert, für den Unterhaltspflichtigen sämtliche laufenden Ausgaben (einschließlich Rücklagenbildung) vorzutragen, selbst wenn diese mit dem Selbstbehalt grundsätzlich abgegolten sind. Denn der konkrete bisherige Lebenszuschnitt der Familie bzw. des unterhaltspflichtigen Kindes ist ein wichtiges Kriterium, zumal die Gerichte im Bereich dieser Unterhaltsansprüche wegen der damit verbundenen persönlichen Belastungen oftmals recht großzügige Maßstäbe anlegen (z.B. wie hier die freie Schätzung der Besuchskosten, die ja zudem zur Begründung des angemessenen Selbstbehalts herangezogen werden).

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Bei den unterhaltsrechtlich relevanten Einkünften der Ehefrau legt das OLG Celle den Vorteil für mietfreies Wohnen nicht mit der objektiv erzielbaren Marktmiete zugrunde, weil für die Antragsgegnerin bei bestehender ehelicher Lebensgemeinschaft keine Verwertungsobliegenheit bestehe. Vielmehr wird die angemessene ersparte Miete (300 Euro) zugrunde gelegt. Vergleichbare Erwägungen finden sich auch im Elternunterhalt (vgl. BGH, Beschl. v. 07.08.2013 – XII ZB 269/12 – FamRZ 2013, 1554).