Nachfolgend ein Beitrag vom 13.9.2016 von Schürmann, jurisPR-FamR 19/2016 Anm. 4

Leitsätze

1. Wird ein Ehegatte stationär pflegebedürftig, so entsteht ihm ein besonderer persönlicher Bedarf, der vor allem durch die anfallenden Heim- und Pflegekosten bestimmt wird. In diesem Fall richtet sich der Familienunterhaltsanspruch ausnahmsweise auf Zahlung einer Geldrente.
2. Ein solcher Unterhaltsanspruch setzt die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners voraus. Der dem Unterhaltsschuldner mindestens zu belassende Eigenbedarf kann in zulässiger Weise nach dem in der Düsseldorfer Tabelle und den Leitlinien der Oberlandesgerichte ausgewiesenen sogenannten eheangemessenen Selbstbehalt bemessen werden.

A. Problemstellung

Die Aufnahme eines Ehegatten in ein Pflegeheim ändert die Lebenssituation dramatisch. Eine wesentliche Frage ist dabei, in welchem Umfang das Einkommen der Ehegatten für die Heimpflege einzusetzen ist und welche Rolle dabei das Unterhaltsrecht spielt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Antragstellerin und Ehefrau des Antragsgegners ist aufgrund einer schweren Erkrankung pflegebedürftig und lebt seit Mai 2013 in einem Pflegeheim. Das monatliche Heimentgelt beträgt rund 3.925 Euro, von denen ein erheblicher Anteil aus Sozialhilfeleistungen bestritten wird. Nicht abgedeckt ist ein vom Leistungsträger anhand des Einkommens der Ehegatten errechneter Eigenanteil von monatlich rund 135 Euro. Die durch ihre Betreuerin vertretene Ehefrau macht diesen Betrag ab Mai 2013 als Unterhaltsanspruch geltend. Der Ehemann bezieht eine monatliche Rente von etwa 1.040 Euro netto.
Das Amtsgericht hatte dem Antrag entsprochen. Auf die Beschwerde des Ehemanns hat das Oberlandesgericht erst ab Juli 2013 einen Anspruch von monatlich 43 Euro zuerkannt. Die zugelassene Rechtsbeschwerde der Ehefrau, mit der sie weiterhin die Zahlung von monatlich 135 Euro erstrebte, blieb ohne Erfolg.
Der BGH sieht wie das Oberlandesgericht die Grundlage für einen Unterhaltsanspruch in den §§ 1360, 1360a BGB. Auch wenn die Rechtsprechung bei konkurrierenden Unterhaltsansprüchen die zu § 1578 BGB entwickelten Grundsätze als Orientierungshilfe herangezogen habe, lasse sich dieser Anspruch bei nicht getrenntlebenden Ehegatten nicht entsprechend den zum Ehegattenunterhalt nach Trennung oder Scheidung entwickelten Grundsätzen bemessen. Der Halbteilungsgrundsatz sei nur auf den Regelfall zugeschnitten und passe nicht mehr, wenn der existenznotwendige Bedarf eines Ehegatten bei Pflegebedürftigkeit besondere Leistungen erfordere, die das verfügbare Einkommen der Eheleute erreichten oder sogar überstiegen. Dieser Bedarf bestimme sich dann nach den unabweisbar konkret erforderlichen Kosten – im Fall der Heimpflege nach den Heim- und Pflegekosten zuzüglich eines Barbetrages für die Bedürfnisse des täglichen Lebens.
Zwar könnte kein Ehegatte seinen Beitrag zum Familienunterhalt unter Hinweis auf ein unzulängliches Einkommen verweigern. Ein solches Verhalten wäre dem Prinzip der ehelichen Lebensgemeinschaft fremd und widerspräche der familienrechtlichen Unterhaltsregelung. Im Fall des häuslichen Zusammenlebens könne daher auch kein Ehegatte zur Deckung seines eigenen Bedarfs für sich einen bestimmten Selbstbehalt in Anspruch nehmen, wie er von der Rechtsprechung für den Trennungs- und nachehelichen Unterhalt entwickelt worden sei.
Allerdings wandele sich der in der Regel auf die Deckung des tatsächlichen Bedarfs gerichtete Familienunterhalt in einen Anspruch auf eine Geldrente, wenn ein besonderer individueller Bedarf zu decken sei. In einem solchen Fall müsse dem unterhaltspflichtigen Ehegatten der eigene angemessene Unterhalt als Selbstbehalt belassen werden. Die Lebensverhältnisse der Eheleute hätten sich einer Trennungssituation weitgehend angenähert. Angesichts der zusätzlichen Belastungen des Pflichtigen durch zusätzliche organisatorische Aufgaben und immaterielle Unterstützung gelte es, dessen übermäßige Belastung zu vermeiden. Auch beim Familienunterhalt sei der angemessene eigene Unterhalt zu wahren, weshalb es dann gerechtfertigt sei, dem anderen Ehegatten zumindest den eheangemessenen Selbstbehalt zu belassen. Ob noch eine Erhöhung um 50% des übersteigenden Einkommens in Betracht komme, hat der BGH offengelassen, aber als naheliegend bezeichnet.

C. Kontext der Entscheidung

Als Vorläufer dieser Entscheidung ist das Urteil des BGH vom 07.07.2004 (XII ZR 272/02 – FamRZ 2004, 1370) zu betrachten. In jenem Urteil befand sich der Ehegatte mit dem höheren Einkommen im Pflegeheim. Diesem hatte der BGH zugebilligt, unabhängig von der Bedürftigkeit des anderen Ehegatten sein Einkommen in voller Höhe vorrangig zur Deckung des eigenen Bedarfs zu verwenden – mit der Folge, dass mangels unterhaltsrechtlicher Bedürftigkeit dem Leistungsträger ein Regressanspruch gegen den Sohn versagt blieb. Der vorstehende Fall unterscheidet sich insofern, als damals über den Anspruch gegenüber einem Dritten zu entscheiden war, während es sich vorliegend um die (teilweise) Deckung des Gesamtbedarfs zweier Ehegatten aus ihrem gemeinsamen Einkommen handelt. Soweit der BGH ausführt, innerhalb einer bestehenden Hausgemeinschaft sei der Bedarf unabhängig von den durch die Rechtsprechung für getrennt lebende Ehegatten oder Geschiedene entwickelten Grundsätzen zu beurteilen, bewegt er sich im Rahmen der ständigen Rechtsprechung (BVerfG, Beschl. v. 10.01.1984 – 1 BvL 5/83 – FamRZ 1984, 346; BGH, Urt. v. 12.04.2006 – XII ZR 31/04 – FamRZ 2006, 1010). Im Prinzip sind die Ansprüche der Ehegatten wechselbezüglich und bestehen unabhängig von ihrer individuellen Leistungsfähigkeit (Voppel in: Staudinger, BGB, 2012, § 1360 Rn. 15). Hieran ändert sich auch nichts, wenn Eheleute aus persönlichen Gründen keinen gemeinsamen Haushalt unterhalten. Mit dem vorliegenden Beschluss betritt der BGH aber insofern Neuland, als diese Grundsätze dann nicht mehr in gleicher Weise maßgeblich sein sollen, wenn – ohne dass es zu einer Trennung der Eheleute i.S.v. § 1567 BGB gekommen wäre – die bestehende Haushaltsgemeinschaft mit dem Wechsel eines Ehegatten in die Heimpflege aufgelöst wird. Mit seiner Begründung, auch beim Familienunterhalt sei eine übermäßige Belastung des Unterhaltspflichtigen mit den Pflegekosten zu vermeiden, rückt der BGH den im Pflegefall aufzubringenden Unterhalt auch bei einer fortbestehenden ehelichen Lebensgemeinschaft in die Nähe seiner Rechtsprechung zum Elternunterhalt. Unklar bleibt dabei, welcher Stellenwert der durch § 1353 BGB postulierten umfassenden Lebensgemeinschaft dann noch zukommen soll, der solche Beschränkungen fremd sind.
Diese rein unterhaltsrechtliche Betrachtung kontrastiert zu den sozialrechtlichen Normen sowie der einschlägigen Rechtsprechung der Sozialgerichte, die ihrerseits eine Übernahme unterhaltsrechtlicher Wertungen ablehnt (LSG Stuttgart, Urt. v. 23.02.2012 – L 7 SO 3580/11). Das Sozialrecht betrachtet nicht getrenntlebende Eheleute als eine Wirtschafts- und Einsatzgemeinschaft, die ihr gemeinsames Einkommen umfassend zur Deckung ihres jeweiligen Bedarfs einzusetzen hat (§ 27 Abs. 2 Satz 2 SGB XII; Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 27 SGB XII Rn. 13, 24; LSG Stuttgart, Urt. v. 23.02.2012 – L 7 SO 3580/11). Diese Beurteilung knüpft allein an den Status der bestehenden Ehe an und ändert sich auch dann nicht, wenn die Eheleute nach dem gewählten Ehemodell in getrennten Haushalten leben (BSG, Urt. v. 18.02.2010 – B 4 AS 49/09 R – FamRZ 2010, 973) oder sich einer von ihnen sich in Heimpflege befindet (Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 27 SGB XII Rn. 13). Sind Hilfen bei stationärer Betreuung zu erbringen, folgt die Bemessung des für die Heimpflege einzusetzenden Einkommens aus § 92a SGB XII. Die Vorschrift tritt als lex specialis an die Stelle der üblichen Normen zur Bedürftigkeitsprüfung und begrenzt durch die Anrechnung des Einkommens die Höhe des Hilfeanspruchs (BSG, Urt. v. 23.08.2013 – B 8 SO 17/12 R Rn. 16; LSG München, Urt. v. 24.09.2014 – L 8 SO 26/14). Mit der Vorschrift bezweckt der Gesetzgeber eine von der Verteilung des Einkommens zwischen den Ehegatten unabhängige Kostenbeteiligung (BT-Drs. 16/2711, S. 12). Bei einer fortbestehenden Einsatzgemeinschaft soll zudem der begrenzte Einkommenseinsatz den nicht hilfebedürftigen Angehörigen weiterhin eine noch angemessene Lebensführung im bisherigen Wohnumfeld ermöglichen (BT-Drs. 16/2711, S. 12; Behrend in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 92a SGB XII Rn. 29 f.; vgl. Empfehlungen des Deutschen Vereins für den Einsatz von Einkommen und Vermögen in der Sozialhilfe (SGB XII) vom 15.12.2015, Ziff. 156 ff.; Schema zur Berechnung s. Eicher in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, Anhang zu § 13 SGB XII). Auch in der sozialrechtlichen Literatur wird vorgeschlagen, dem im Haushalt verbleibenden Ehegatten zumindest den Selbstbehalt für getrenntlebende Ehegatten zu belassen (Kaune, ZfF 2007, 241) – eine Frage, die sich vorliegend angesichts des geringen Einkommens und des offensichtlich auf die Kostenersparnis beschränkten Einkommenseinsatzes (§ 92a Abs. 1 SGB XII) nicht stellte.
Diese sozialrechtlichen Zusammenhänge und Wertentscheidungen des Gesetzgebers sind in den Gründen nicht erwähnt und scheinen aus Sicht des BGH für die unterhaltsrechtliche Betrachtung offenbar ohne Bedeutung.

D. Auswirkungen für die Praxis

Der Beschluss durchbricht das sonst die Rechtsprechung leitende Prinzip des Nachrangs sozialrechtlicher Hilfen und greift unmittelbar in das System der Hilfen in Einrichtungen ein. Indem der BGH eine eigene unterhaltsrechtliche Betrachtung an die Stelle des nach sozialrechtlichen Maßstäben einzusetzenden Einkommens setzt, ist die Entscheidung in allen Fällen relevant, in denen bei einem geringen Haushaltseinkommen einer der Ehegatten pflegebedürftig wird. Mit der Begründung, der in der Ehewohnung verbliebene Ehegatte brauche den durch den Leistungsträger errechneten „Kostenbeitrag“ nicht als Unterhalt zu leisten, lässt sich ein Zahlungsbegehren des Ehegatten abwehren – mit der Folge, dass höhere Sozialleistungen zu erbringen wären. Setzt sich der eingeschlagene Weg fort, die Einkommen von nicht in einer Haushaltsgemeinschaft lebenden Ehegatten getrennt zu betrachten, ist das mit der Einführung des § 92a SGB XII angestrebte Ziel, das einzusetzende Einkommen unabhängig von der Verteilung der Einkommen zwischen den Ehegatten immer in gleicher Höhe zu bestimmen, nicht mehr zu erreichen.
Die frühere Sachbehandlung stand im Einklang mit der sozialrechtlichen Betrachtung und dem allgemeinen Verständnis von der Ehe einer umfassenden Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft, in der die von der Rechtsprechung für Trennungsfamilien entwickelten Grundsätze von Halbteilung und Selbstbehalt keinen Platz haben. Die Kosten der Lebensführung beider Ehegatten sind auch bei stark asymmetrisch verteilten Bedarfen, z.B. bei chronischen Krankheiten oder häuslicher Pflege, aus dem Gesamteinkommen aufzubringen. Diese Betrachtung ist allerdings nicht ohne weiteres mit einer individuellen Zuordnung von Einkommen zu vereinbaren, wie sie für das auf Zwei-Personen-Beziehungen aufbauende Unterhaltsrecht charakteristisch ist. Wenn der BGH von seiner bisherigen Rechtsprechung abweicht und bei einer übermäßigen Belastung des Familieneinkommens nunmehr auch beim Familienunterhalt eine Begrenzung des Unterhalts durch einen dem Pflichtigen zu belassenden Selbstbehalt beachten will, hat dies gravierende Folgen für das ganze System sozialer Unterstützung.
Mag auch bei fortbestehender Ehe der Halbteilungsgrundsatz keine Geltung beanspruchen, kann nunmehr jeder Ehegatte bei einem außerhäuslichen Pflegebedarf einwenden, ihm müsse ein angemessener pauschaler Selbstbehalt verbleiben. Dieser kann bei einem sinkenden Haushaltsbedarf noch über dem für die Beibehaltung der früheren Lebensverhältnisse erforderlichen Betrag liegen – nach den Gründen zumindest bis zur Hälfte des eigenen Einkommens. Im Ergebnis senkt dies die Höhe des aus dem Gesamteinkommen zu tragenden Kostenanteils, vermehrt den Hilfebedarf des pflegebedürftigen Ehegatten und führt zu höheren Sozialleistungen. Die Entscheidung lässt offen, ob das Motiv einer Entlastung des anderen Ehegatten den innerfamiliären Unterhalt auch – bei der u.U. sehr viel belastenderen – häuslichen Pflege beeinflussen kann.
In der anwaltlichen Beratung ist auf geänderte Rechtsprechung des BGH hinzuweisen. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Leistungsträger und Sozialgerichte auf diese Argumentation einlassen werden. Denn anders als es die auf die Kosten der Pflege zugeschnittenen Ausführungen des Senats suggerieren, geht es vorliegend ersichtlich nicht um den (durch Pflegeversicherung und Sozialleistungen gedeckten) hohen Pflegebedarf, sondern um die mit dem Wechsel eines Ehegatten in die Heimpflege verbundene häusliche Ersparnis von rund 135 Euro. Den Eheleuten wurde demnach nicht mehr abverlangt, als der nach dem sozialrechtlich aufzubringende Mindestbeitrag (§ 92a Abs. 1 SGB XII). Ob dieser Anteil zutreffend bemessen ist, wäre indes durch die Sozialgerichte zu entscheiden. Gleiches gilt für einen ggf. zusätzlich zu leistenden Kostenanteil (§ 92a Abs. 2, 3 SGB XII).
Wenn sich auch die Entscheidung auf den ersten Blick als eine familienfreundliche Lösung darstellt, kann sie sich an anderer Stelle als nachteilig erweisen. Soweit sich die Entlastung des pflichtigen Ehegatten in erhöhten Sozialleistungen niederschlägt, beruht dies auf einem ungedeckten Unterhaltsbedarf, für den dann wiederum unterhaltspflichtige Kinder in Regress genommen werden können.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Der BGH legt eingehend dar, dass die räumliche Trennung durch den Wechsel eines Ehegatten in ein Pflegheim nicht zu einem „Getrenntleben“ i.S.d. § 1567 BGB führe. Nach dieser Vorschrift ist von einem Getrenntleben nur dann auszugehen, wenn zwischen den Ehegatten keine häusliche Gemeinschaft mehr besteht und ein Ehegatte sie erkennbar nicht herstellen will, weil er die eheliche Lebensgemeinschaft ablehnt. Fehlt es an dem Willen, die eheliche Lebensgemeinschaft aufzuheben, leben die Eheleute auch dann nicht getrennt, wenn sie zwei eigenständige Haushalte unterhalten (instruktiv BSG, Urt. v. 18.02.2010 – B 4 AS 49/09 R – FamRZ 2010, 973). Auch Aufnahme eines Ehegatten in einem Pflegeheim führt nach einhelliger Auffassung nicht zur Trennung der Ehegatten (BGH, Urt. v. 25.01.1989 – IVb ZR 34/88 – FamRZ 1989, 479; BSG, Urt. v. 16.04.2013 – B 14 AS 71/12 R – FamRZ 2014, 662).