Nachfolgend ein Beitrag vom 12.9.2017 von Reinken, jurisPR-FamR 18/2017 Anm. 2
Leitsätze
1. Zum Umfang der Ermittlungspflichten und der erforderlichen Überzeugungsbildung des Familiengerichts bei der Altersfeststellung von Migranten.
2. Voraussetzung für weitere Ermittlungen von Amts wegen ist eine hinreichend plausible Behauptung der Minderjährigkeit. Deren Fehlen kann sich auch aus den bisher durchgeführten Ermittlungen des Familiengerichts ergeben.
3. Zur Möglichkeit und zu den Grenzen der Altersbestimmung anhand des Handskeletts.
A. Problemstellung
Wie weit geht die Amtsermittlungspflicht des Familiengerichts zur Altersfeststellung bei Antrag eines Migranten auf Anordnung des Ruhens der elterlichen Sorge und Bestellung eines Vormunds?
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Ein Migrant, nach seinen Angaben afghanischer Staatsangehöriger und 17 Jahre alt, wurde auf seinem Weg von Norwegen über Deutschland nach Frankreich an der Grenze zu Frankreich in Obhut genommen. Das zuständige Jugendamt stellte für den Migranten bei dem Familiengericht Antrag auf Ruhen der elterlichen Sorge und Anordnung der Vormundschaft. Das Familiengericht stellte fest, dass mangels erwiesener Minderjährigkeit kein Handlungsbedarf bestehe.
Der dagegen von dem Migranten eingelegte „Widerspruch“ blieb erfolglos. Es sei – auch nach der persönlichen Anhörung in der Beschwerdeinstanz – nicht davon auszugehen, dass er das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet habe. In Ausschöpfung aller nach Lage des Falles bestehenden Aufklärungsmöglichkeiten sprächen gewichtige Anhaltspunkte für seine Volljährigkeit. Da es auch an einem ausreichend substantiierten, nachvollziehbaren und widerspruchsfreien Vortrag zur Minderjährigkeit fehle, bestehe keine Verpflichtung zu weiteren Ermittlungen, insbesondere gebiete auch die Amtsermittlungspflicht keine solche ins Blaue hinein.
C. Kontext der Entscheidung
Ohne Begleitung einer erziehungs- bzw. sorgeberechtigten Person eingereiste Migranten beschäftigen den Gesetzgeber (vgl. das zum 01.11.2015 in Kraft getretene Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher, BGBl 2015 I 1802; dazu auch Veit, FamRZ 2016, 93; Vogel, FF 2016, 135) und zunehmend auch die Familiengerichte. Fallen die Eltern als Sorgeberechtigte aus, hat das Familiengericht nach den §§ 1773, 1774 BGB für einen unbegleiteten Minderjährigen von Amts wegen Vormundschaft anzuordnen und einen nach § 1779 Abs. 2 BGB geeigneten Vormund zu bestellen. Ein Minderjähriger ist auch dann ein unbegleiteter Minderjähriger i.S.d. § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, wenn er durch einen Verwandten begleitet wird, der aber über keine Sorgerechtsvollmacht verfügt bzw. dessen vorgelegte Urkunden nicht oder nicht hinreichend als echt und anerkennenswert beurteilt werden können (KG, Beschl. v. 03.02.2016 – 3 WF 8/16 – FamRZ 2016, 649). Die Frage der Minderjährigkeit ist häufig zweifelhaft, so dass es der Altersfeststellung durch das Familiengericht bedarf. Angesichts regelmäßig fehlender schriftlicher Unterlagen ist das Familiengericht auf Angaben des Migranten, seines Umfeldes und auf sonstige Untersuchungen angewiesen, um die Feststellung treffen zu können.
Behauptet der Migrant minderjährig zu sein, macht er damit zugleich ein Fürsorgebedürfnis staatlicher Stellen für sich geltend. Dieses Fürsorgebedürfnis schlägt sich in der Rechtsprechung nieder. Ist nach Ausschöpfung aller zumutbaren Untersuchungen Minderjährigkeit nicht auszuschließen, muss in diesen Fällen die Verpflichtung des Staates zur Gewährleistung des Kindeswohls durch Bestellung eines Vormunds Vorrang haben, jedenfalls dann, wenn der Migrant die Vormundschaft trotz möglicher Volljährigkeit will. Dem Migranten ist daher die Chance zu geben, noch vor dem sicheren Eintritt der Volljährigkeit mit Hilfe eines Vormundes seinen ausländerrechtlichen Status klären zu lassen (OLG Hamm, Beschl. v. 25.02.2014 – 1 UF 213/13; so auch BGH, Beschl. v. 12.02.2015 – V ZB 185/14, zur Amtsermittlungspflicht bei Zweifeln an der behaupteten Minderjährigkeit eines Asylbewerbers; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.08.2015 – 18 UF 92/15).
Vor einer solchen Feststellung bedarf es jedoch der sachgerechten Ausübung der Amtsermittlungspflicht des Familiengerichts nach § 26 FamFG wie auch der Mitwirkungspflicht des Betroffenen nach § 27 FamFG, der eine ihn begünstigende Rechtsfolge erstrebt. Die Amtsermittlungspflicht nach § 26 FamFG erfordert, dass das Familiengericht den gesamten Inhalt des Verfahrens, insbesondere den Umfang und Inhalt des Vorbringens des Migranten und den sonstigen Akteninhalt, zur Überzeugungsbildung heranzuziehen und sich im Wege der freien Beweiswürdigung seine subjektive Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen des entscheidungserheblichen Sachverhalts zu verschaffen hat. Bei Anordnung des Ruhens der elterlichen Sorge darf die Frage der Minderjährigkeit nicht offenbleiben (OLG Frankfurt, Beschl. v. 09.08.2016 – 5 UF 169/16, m. Anm. Elzer, NZFam 2016, 999). Die Amtsermittlungspflicht wird aber erst ausgelöst, wenn das Alter des Betroffenen zweifelhaft ist. Diese Zweifel werden jedoch nicht bereits durch die Angabe des Betroffenen, er sei minderjährig, begründet. Ist diese Behauptung offenkundig falsch oder werden die Umstände, aus denen sich die Minderjährigkeit ergeben soll, schon nicht hinreichend plausibel dargelegt, sind weitere Ermittlungen zum Alter des Betroffenen nicht erforderlich (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.08.2015 – 18 UF 92/15 – FamRZ 2015, 2182). Sprechen gewichtige Anhaltspunkte für die Volljährigkeit des Betroffenen, kann trotz verbleibender Unsicherheit von der Volljährigkeit auszugehen sein, wenn die Behauptungen des Betroffenen zu seinem Alter grob unrichtig und widerlegt sind (OLG Köln, Beschl. v. 21.06.2013 – 26 UF 49/13). Die Mitwirkungspflicht nach § 27 FamFG verlangt von dem Betroffenen substantiierten, nachvollziehbaren und widerspruchsfreien Vortrag zu seiner Minderjährigkeit. Die Mitwirkungspflicht kann sich auf die röntgenologische Untersuchung der Skelettreife der Hand erstrecken, selbst wenn diese Untersuchungsmethode für sich allein keine sicheren Feststellungen bietet. Zuverlässige Ergebnisse können erst durch eine Altersdiagnostik mit verschiedenen körperlichen Untersuchungen, durch eine zahnärztliche Untersuchung mit Erhebung des Zahnstatus und Gebissbefundes sowie den Einsatz bildgebender Verfahren im Rahmen radiologischer Untersuchungen erzielt werden. Jedenfalls durch die Kombination verschiedener Untersuchungsmethoden können brauchbare Ergebnisse erzielt werden. Weitere Untersuchungen, insbesondere körperlicher und zahnärztlicher Natur, sind dem Betroffenen auch zumutbar (OLG Hamm, Beschl. v. 25.02.2014 – 1 UF 213/13; OVG Hamburg, Beschl. v. 09.02.2011 – 4 Bs 9/11). Kann der Sachverhalt wegen der – nicht nachvollziehbaren – ablehnenden Haltung des Betroffenen nicht weiter aufgeklärt werden, kann auch die begehrte Feststellung der Minderjährigkeit nicht getroffen werden (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.08.2015 – 18 UF 92/15).
D. Auswirkungen für die Praxis
Liegen – wie im Regelfall – keine verbindlichen und aussagekräftigen Unterlagen zum Alter des Migranten vor, bleibt, wie die umfangreichen Darlegungen im Beschluss des OLG Koblenz zu den herangezogenen und ausgewerteten Details zeigen, die umfangreiche und arbeitsintensive Aufarbeitung des Einzelfalls. Ohne eine ausführliche und detaillierte persönliche Anhörung des Migranten, auch noch in der Beschwerdeinstanz, wird dies nicht möglich sein. Der Umfang der amtswegigen Ermittlung ist aber auch von der Mitwirkung des Betroffenen abhängig. Ins Blaue hinein muss nicht ermittelt werden. Der Vortrag des Betroffenen muss so konkret sein, dass er die Ermittlungspflicht auszulösen vermag. Insbesondere wegen möglicher Verständigungsprobleme und der Notwendigkeit der Mitwirkung ist eine sach- und fachgerechte Begleitung und Unterstützung des Migranten erforderlich.
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