Nachfolgend ein Beitrag vom 25.10.2016 von Stockmann, jurisPR-FamR 22/2016 Anm. 2

Orientierungssatz zur Anmerkung

Art. 6 Abs. 2 der VO (EU) Nr. 604/2013 des europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (sog. Dublin-III-Verordnung) verpflichtet die Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass ein unbegleiteter Minderjähriger von einem Vertreter, der über eine entsprechende Qualifikation und Rechtskenntnisse verfügt, vertreten wird.
Ein allgemeiner Rechtssatz, dass diese sachkundige Vertretung eines unbegleiteten Jugendlichen grundsätzlich durch das Jugendamt als Vormund gewährleistet ist, lässt sich nicht aufstellen, denn die notwendige Feststellung einer tatsächlichen Eignung für den Wirkungskreis der asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten darf nicht durch die bloße Forderung, das Jugendamt müsse die Fähigkeit haben oder entsprechende Hilfen in Anspruch nehmen, ersetzt werden.
Bei der Eignungsprüfung im Rahmen der Auswahl von Vormund bzw. Mitvormund nach den §§ 1775, 1779 BGB verbieten sich Vergleiche mit anderen Angelegenheiten ohne solche Anforderungen und bei anderen Personenkreisen, z.B. auch den mit Eltern eingereisten Jugendlichen.
Das Regel-Ausnahme-Verhältnis für die Annahme eines besonderen Grundes i.S.d. § 1775 Satz 2 BGB ist nicht deshalb verletzt, weil gesellschaftlich bedingt statistisch steigende Fallzahlen wegen vermehrter Asylbewerber zu häufigerer Anordnung von Mitvormundschaft führen.

A. Problemstellung

Die Frage, ob unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen neben einem für die Personensorge zuständigen Vormund ein gesonderter gesetzlicher Vertreter für asyl- und ausländerrechtliche Angelegenheiten bestellt werden darf, ist seit Jahren in der familiengerichtlichen Rechtsprechung sehr umstritten. Angesichts der hohen Fallzahlen (ca. 40.000 im Jahr 2015) ist das Problem weiter relevant. Der 6. Familiensenat des OLG Frankfurt hat sich ausführlich mit den in der Rechtsprechung vorgebrachten Argumenten auseinandergesetzt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der von dem Verfahren betroffene Minderjährige verließ Syrien ohne seine Eltern, um den kriegerischen Auseinandersetzungen in seiner Heimat zu entgehen. Er ist im November 2015 in Deutschland eingereist. Das zuständige Familiengericht bestellte nach der Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge (§ 1674 BGB) das Jugendamt zum Vormund. Der weitere Antrag des Jugendamtes, einen Rechtsanwalt als Mitvormund für das „Asylverfahren/ausländerrechtliche Vertretung“ zu bestellen, wurde unter Berufung auf die Entscheidung des OLG Nürnberg (Beschl. v. 07.12.2015 – 9 UF 1276/15, vgl. Clausius, jurisPR-FamR 2/2016 Anm. 1), wonach dies unzulässig sei, abgelehnt. Dagegen richtet sich die Beschwerde des (Amts-)Vormundes, der geltend machte, er sei nicht in der Lage, die Vertretung des minderjährigen Ausländers in den fraglichen Bereichen sachgerecht auszuüben.
Das OLG Frankfurt hat der Beschwerde stattgegeben.
Gemäß § 1775 BGB könnten ausnahmsweise mehrere Vormünder für ein Mündel bestellt werden, sofern besondere Gründe hierfür vorlägen. Die Entscheidung, ob solche Gründe gegeben seien, habe das Familiengericht nach pflichtgemäßem Ermessen in jedem Einzelfall zu treffen.
Deswegen sei der Auffassung, das Regel-Ausnahme-Verhältnis sei nicht beachtet, wenn nun häufiger die Mitvormundschaft angeordnet werde, entgegenzuhalten, dass allein die Tatsache statistisch steigender Fallzahlen wegen vermehrter Asylbewerber, nichts daran ändere, dass es in rechtlicher Hinsicht dennoch eine Ausnahmekonstellation bleibe. Ansonsten wäre das Tatbestandsmerkmal „besonderer Grund“ sachwidrig davon abhängig, wie häufig oder selten eine besondere Fallkonstellation zufällig neu in der Praxis auftrete. Vorliegend sei vom Grundsatz der Einzelvormundschaft abzuweichen, weil es erforderlich sei, neben dem Jugendamt als Amtsvormund mit besonderer Sachkunde auf dem Gebiet des Jugendhilferechts noch einen weiteren Vormund mit dem Wirkungskreis asyl- und ausländerrechtlicher Angelegenheiten zu bestellen.
Ein allgemeiner Rechtssatz dergestalt, dass die nach neuem europäischen Recht vorgesehene sachkundige Vertretung eines unbegleiteten Jugendlichen „grundsätzlich durch das Jugendamt als Vormund gewährleistet“ sei (so BGH, Beschl. v. 04.12.2013 – XII ZB 57/13 in dem obiter dictum Rn. 9), lasse sich schon deshalb nicht aufstellen, weil insoweit jeweils eine Tatsachenfeststellung zu treffen sei. Das gelte zumindest dann, wenn das Jugendamt selbst plausibel darlege, dass es nicht in der Lage sei, den Wirkungskreis sach- und fachgemäß auszufüllen. Wenn das als Amtsvormund bestellte Jugendamt aber tatsächlich über keine ausreichenden asyl- und ausländerrechtlichen Kenntnisse verfüge, um die für den Mündel anstehenden Fragen zu beantworten, bleibe es danach für die Eignungsprüfung angezeigt, dass eine hierfür sachkundige Person als Mitvormund bestellt werde. Die Gegenmeinung, darunter auch das vom Amtsgericht im angefochtenen Beschluss zitierte OLG Nürnberg, ersetze an dieser Stelle die notwendige Feststellung einer tatsächlichen Eignung durch die bloße Forderung, das Jugendamt habe dies zu beherrschen oder Hilfen in Anspruch zu nehmen. Das werde besonders in der nicht widerspruchsfreien Begründung des 2. Zivilsenats des OLG Bamberg (Beschl. v. 13.08.2015 – 2 UF 140/15, vgl. Götsche, jurisPR-FamR 21/2015 Anm. 4) deutlich, die zunächst die Notwendigkeit eines Vertreters mit den erforderlichen Rechtskenntnissen hervorhebe, um dann jedoch weiter auszuführen, es müsse „nur eine Person bestellt werden und nicht mehrere.“ Dieser eine Vertreter – nämlich das Jugendamt – besitze aber nach eigenem Bekunden im vorliegenden Fall diese Kenntnisse gerade nicht, sondern müsse sie sich bestenfalls erst beschaffen, so dass tatsächlich im Ergebnis kein geeigneter Vertreter mit diesen Kenntnissen bestellt werde. Damit sei das Jugendamt zwar nicht gehindert, aber eben auch nicht geeignet i.S.d. § 1779 BGB für diesen Wirkungskreis.
Diese Differenzierung zwischen Verhinderung und fehlender Eignung im Rahmen der Auswahl verkenne auch das OLG Nürnberg. Insbesondere nach den neuen europarechtlichen Vorschriften könne dieser Eignungsmangel nicht einfach dadurch ausgeräumt werden, dass sich das Jugendamt externen fachlichen Rat beschaffe. Denn gemäß Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33/EU müsse der Vertreter der Minderjährigen nun selbst über Erfahrungen und Fachkenntnisse in Asylverfahren verfügen. Auch die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 („Dublin-III“), die seit dem 01.01.2014 in allen Mitgliedsländern der EU unmittelbar anwendbares Recht darstelle, lege in Art. 6 Abs. 2 fest, dass der Vertreter über die entsprechende Qualifikation und die Fachkenntnisse verfügen müsse.
Der Amtsvormund könne zudem ohne spezielle Kenntnisse nicht beurteilen, welche aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen zu ergreifen seien, um den ausländerrechtlichen Status für den Minderjährigen zu klären und zu sichern im Interesse des Mündels bestmöglich zu handeln. Da ein Asylantrag oftmals ohne Erfolg bleibe, werde es in manchen Fällen sogar ratsam sein, davon abzusehen bzw. ihn nicht weiter zu verfolgen, um dem Minderjährigen die belastende Situation eines möglicherweise erfolglosen Asylverfahrens zu ersparen
Die allgemeine Argumentation, das Jugendamt werde schon das Nötige veranlassen, mag für andere Angelegenheiten zutreffen; vorliegend hätten es jedoch die europäischen Institutionen gerade für erforderlich gehalten, speziell die unbegleiteten Jugendlichen in Asyl- und Ausländerfragen besser zu schützen; dies lasse sich nicht mit allgemeinen Erwägungen für andere Angelegenheiten und andere Personenkreise, eben auch nicht für die mit Eltern eingereisten Jugendlichen, umgehen.
Zwar sei dem BGH zuzustimmen, dass dieser Vertreter nicht zwingend Rechtsanwalt sein müsse; allerdings sei dem Senat aktuell keine geeignete Person bekannt, die die erforderlichen Rechtskenntnisse auf dem Gebiet des Ausländer- und Asylrechts mitbringe und nicht Rechtsanwalt mit besonderem Schwerpunkt auf diesem Rechtsgebiet sei.

C. Kontext der Entscheidung

Die bis dahin von vielen Familiengerichten praktizierte Handhabung, unbegleiteten Minderjährigen neben dem für die allgemeine Personensorge zuständigen Jugendamt einen Rechtsanwalt für die Vertretung in ausländer- und asylrechtlichen Fragen zu bestellen, wurde vom BGH mit Beschluss vom 29.05.2013 (XII ZB 530/11) als unzulässig bezeichnet. Bei fehlender Sachkunde müsse sich das zum Einzelvormund bestellte Jugendamt um geeignete Rechtsberatung bemühen.
Nach Inkrafttreten der Dublin-III-Verordnung wurde dennoch von der Praxis vielfach unter Hinweis auf die darin enthaltene Verpflichtung, dem Minderjährigen einen qualifizierten Vertreter beizuordnen, die frühere Handhabung beibehalten (vgl. Stockmann, jurisPR-FamR 2/2014 Anm. 5).
Demgegenüber hat der BGH mit Beschluss vom 04.12.2013 (XII ZB 57/13) in einem obiter dictum erkennen lassen, trotz der neuen europarechtlichen Vorgaben an seiner Auffassung festzuhalten: Die geforderte sachkundige Vertretung sei durch das Jugendamt gewährleistet. Diese Ansicht wurde von mehreren Spruchkörpern übernommen, so insbesondere von den vorstehend erwähnten Senaten des OLG Nürnberg und des OLG Bamberg. Andere Spruchkörper (so z.B. OLG Bamberg, Beschl. v. 07.01.2015 – 7 UF 261/14 – FamRZ 2015, 682; AG Heidelberg, Beschl. v. 21.07.2015 – 31 F 67/15) haben wie vorliegend der 6. Familiensenat des OLG Frankfurt die Argumentation des BGH hinterfragt und prüfen im Einzelfall, ob das Jugendamt zur Interessenvertretung des Minderjährigen geeignet ist.

D. Auswirkungen für die Praxis

Durch die uneinheitliche Rechtsprechung hängt es derzeit von der (zufälligen) örtlichen Zuweisung im Clearingverfahren nach den §§ 42b ff. SGB VIII ab, ob ein unbegleiteter Minderjähriger einen gesonderten (qualifizierten) Vertreter in asyl- und ausländerrechtlichen Fragen erhält oder nicht. Die Entscheidung des 6. Familiensenats des OLG Frankfurt wird direkt nur Auswirkungen in dessen örtlichen Zuständigkeitsbereich haben. Es bleibt aber zu wünschen, dass seine Argumente auch von den anderen Spruchkörpern, so auch vom BGH, berücksichtigt werden.