Nachfolgend ein Beitrag vom 29.3.2016 von Clausius, jurisPR-FamR 7/2016 Anm. 5

Orientierungssätze

1a. Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern berechtigen den Staat, auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramts die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.02.1982 – 1 BvR 188/80 – BVerfGE 60, 79, 91; siehe auch BVerfG, stattgebender Kammerbeschl. v. 07.04.2014 – 1 BvR 3121/13 – Rn. 18).
1b. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern und deren Aufrechterhaltung zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre (vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschl. v. 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14 – juris, Rn. 23).
1c. Diesbezüglich kommt bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung ein strenger Kontrollmaßstab zur Anwendung, der sich wegen des besonderen Eingriffsgewichts ausnahmsweise auch auf einzelne Auslegungsfehler sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts erstrecken kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.06.2014 – 1 BvR 2926/13 – BVerfGE 136, 382, 391).
2. Hier: Verletzung des Elternrechts durch Zurückweisung des Antrages auf Rückübertragung der elterlichen Sorge ohne ausreichende Darlegung, weshalb das Kindeswohl im Falle der Rückkehr der Kinder in den mütterlichen Haushalt gefährdet wäre.
3. Festsetzung des Gegenstandswertes auf 25.000 Euro.

A. Problemstellung

Der Beschluss setzt sich mit der Frage auseinander, unter welchen Voraussetzungen ein Eingriff in das Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG durch erstmalige Trennung von Eltern und Kindern oder Aufrechterhaltung einer solchen Trennung verfassungsrechtlich zulässig ist.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Auf Antrag des Jugendamts wurde der Beschwerdeführerin im Mai 2014 die elterliche Sorge für ihre beiden Kinder entzogen. Da die Fremdunterbringung von ihr mitgetragen und sie sich um eine enge Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe bemühen wollte, war eine Entscheidungsüberprüfung nach neun Monaten vorgesehen. Im Dezember 2014 beantragte die Beschwerdeführerin die Rückübertragung der elterlichen Sorge. Gestützt auf ein Gutachten wurde ihr Antrag erst- und zweitinstanzlich zurückgewiesen. Mit der Verfassungsbeschwerde rügte die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG.
Das BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben.
Die Trennung des Kindes von seinen Eltern stelle den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar, der allein zu dem Zweck zulässig sei, das Kind vor nachhaltigen Gefährdungen zu schützen, und nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen dürfe. Um die Trennung oder deren Aufrechterhaltung zu rechtfertigen, müsse das elterliche Fehlverhalten ein solches Maß erreichen, dass das Kind in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet sei. Eine solche Gefährdung sei in den angegriffenen Entscheidungen nicht dargelegt. Weder Ausgangs- noch Beschwerdegericht hätten den für eine Fremdunterbringung geltenden strengen Maßstab der Kindeswohlgefahr zugrunde gelegt. Dies indiziere bereits die erstinstanzliche Formulierung des Gutachtenauftrages, da um ein Gutachten „zur künftigen Regelung der elterlichen Sorge“ ersucht worden sei. Das Oberlandesgericht habe keine eigene Subsumtion vorgenommen, sondern nur formelhaft auf die Ausführungen des Amtsgerichts und des Gutachtens verwiesen. Das Gutachten selbst habe sich von vornherein auch nicht auf die Frage einer nachhaltigen Kindeswohlgefahr gerichtet, sondern auf die Herstellung möglichst guter Beziehungsbedingungen und einer möglichst kindeswohldienlichen Förderung durch die Mutter. Dabei seien aber eher die Idealvorstellungen der Gutachterin vom Kindeswohl zum Ausdruck gekommen.
Die Entscheidungen lenkten den Blick vorrangig auf den psychischen Zustand der Mutter und gingen – unter Rückgriff auf einzelne Formulierungen des Gutachtens – davon aus, dass sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Während das Amtsgericht die diesbezügliche Begründung auf das Gutachten stützte, gebe das Oberlandesgericht hierfür überhaupt keine eigenständige Begründung. Diese lasse sich aber auch nicht aus dem Gutachten ableiten. Die Einschätzungen der Sachverständigen hierzu seien vage und blieben spekulativ. So sei nur von „mutmaßlichen“ Störungen die Rede. Dabei sei aber nicht erkennbar, aufgrund welcher Umstände und welcher fachlichen Qualifikation die Sachverständige überhaupt zu ihrer psychologisch und psychotherapeutisch weitreichenden Charakterisierung der Beschwerdeführerin gelange.

C. Kontext der Entscheidung

Der Beschluss des BVerfG reiht sich in eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung ein. Betont wurde durchgängig, dass nach Art. 6 Abs. 2 GG die Familie unter einem besonderen staatlichen Schutz steht und nicht jedes Versagen der Eltern den Staat berechtigt, diese von der Erziehung auszuschalten. Es gehört nicht zum Wächteramt des Staates, für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes Sorge zu tragen. Vielmehr muss es ggf. in Kauf genommen werden, dass Kinder durch elterliche Entscheidungen Nachteile erleiden, da die sozio-ökonomischen Verhältnisse der Eltern zum Schicksal und Lebensrisiko des Kindes gehören (BVerfG, Beschl. v. 29.01.2010 – 1 BvR 374/09 – FamRZ 2010, 713). Die Familiengerichte sind bei Entscheidungen nach § 1666 BGB in der Verfahrensgestaltung zu einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung verpflichtet. Hierzu gehört auch die Prüfung, ob ggf. öffentliche Hilfen nach den §§ 27 ff. SGB VIII erfolgversprechend sein können, um die Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu stärken (BGH, Beschl. v. 22.01.2014 – XII ZB 68/11 – FamRZ 2014, 543). Diese Hilfen sind den Eltern auch ausdrücklich anzubieten, da sie unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit als milderes Mittel vor einem Eingriff in das Grundrecht abzuwägen sind. Bei einer Ablehnung solcher Hilfen durch das Jugendamt – etwa mit der Argumentation, dass sie praktisch nicht durchsetzbar seien – sind die Eltern oder sonstigen Personensorgeberechtigten gehalten, ihre Ansprüche notfalls auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren weiter zu verfolgen (BVerfG, Beschl. v. 24.03.2014 – 1 BvR 160/14 – FamRZ 2014, 1005).
Kritisch beleuchtet hat das BVerfG in seinen jüngeren Entscheidungen auch die eingeholten Sachverständigengutachten, etwa mit Blick auf die Frage der fachgerechten Sachverhaltsermittlung als essentielle Grundlage der ausgesprochenen Empfehlung an das Gericht (BVerfG, Beschl. v. 22.05.2014 – 1 BvR 3190/13 – FamRZ 2014, 1270) oder aber auch der Wahrung der gebotenen Objektivität (BVerfG, Beschl. v. 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14 – FamRZ 2015, 112).

D. Auswirkungen für die Praxis

Auch wenn der Beschluss des BVerfG keine überraschend neuen Aspekte beinhaltet, so liegt seine praktische Bedeutung gleichwohl darin begründet, dass er erneut aufzeigt, inwieweit ein fehlerhaft gefasster – nicht an den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1666 BGB – orientierter Beweisbeschluss bereits auf Seiten des beauftragten Sachverständigen eine grundlegend falsche Begutachtungsrichtung veranlassen kann. Es ist daher unerlässlich, die Beweisbeschlüsse kritisch zu würdigen und dadurch Sorge zu tragen, dass nicht bereits in einem frühen Stadium die falschen Weichen für das weitere Verfahren gestellt werden. Ebenso kritisch zu würdigen sind aber auch die Gutachten selbst, etwa zu der Frage der fachlichen Befähigung hinsichtlich bestimmter Feststellungen ebenso wie zu der hinreichend sicheren Feststellung von Umständen, auf die sich das Gutachten letztlich stützt, in Abgrenzung zu bloßen Vermutungen.