Nachfolgend ein Beitrag vom 1.8.2017 von Herberger, jurisPR-FamR 15/2017 Anm. 3

Leitsätze

1. Eine generelle Festlegung, ab wann ein Verfahren nicht beschleunigt durchgeführt worden ist, ist nicht möglich; es ist jeweils eine einzelfallbezogene Betrachtung anzustellen.
2. Das Kindeswohl prägt und begrenzt den Beschleunigungsgrundsatz; Beschleunigung ist kein Selbstzweck.
3. Der Beschleunigungsgrundsatz soll vor allem verhindern, dass sich während des Verfahrens Beziehungsverhältnisse verfestigen, dass eine Entscheidung in der Sache alleine durch Zeitablauf präjudiziert wird.
4. Wegen des dem Amtsgericht bei seiner Verfahrensführung zukommenden Gestaltungsspielraums ist Gegenstand einer Beschleunigungsbeschwerde gemäß § 155c FamFG nicht die Überprüfung der Richtigkeit der Verfahrensführung des Amtsgerichts, sondern die Beachtung des Vorrang- und Beschleunigungsgebots des § 155 Abs. 1 FamFG durch eine daran ausgerichtete Verfahrensförderung.
5. Hält das Amtsgericht ein Verfahren nicht für entscheidungsreif und liegen aus Sicht des Amtsgerichts Sachgründe dafür vor, weiter – etwa durch Einholung eines Sachverständigengutachtens – Amtsaufklärung zu betreiben, ist eine Überprüfung der Entscheidungsreife dem Beschwerdegericht entzogen.

A. Problemstellung

Die mit Gesetz vom 11.10.2016 eingeführten Rechtsbehelfe der Beschleunigungsrüge (§ 155b FamFG) und der Beschleunigungsbeschwerde (§ 155c FamFG) beschäftigen mittlerweile zunehmend die Praxis. Zwischenzeitlich hat die Rechtsprechung erste Leitlinien herausgearbeitet. Die vorliegende Entscheidung knüpft daran an.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kindesvater und die Kindesmutter sind miteinander verheiratet. Sie sind Eltern von zwei gemeinsamen Kindern. Seit der Trennung im Jahre 2015 haben die Eltern bereits mehr als zehn Verfahren zu allen denkbaren Fallgestaltungen geführt.
Der Kindesvater rügte sowohl in einem das Sorgerecht/Aufenthaltsbestimmungsrecht betreffenden Verfahren als auch in einem das Umgangsrecht betreffenden Verfahren, dass die Verfahrensdauer dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot nach § 155 Abs. 1 FamFG nicht gerecht werde. Nachdem das Amtsgericht die Beschleunigungsrüge für unbegründet gehalten hatte, legte der Kindesvater eine Beschleunigungsbeschwerde ein.
Das OLG Stuttgart hat die Beschleunigungsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen.
Das Oberlandesgericht führt aus, dass das Beschleunigungsgebot des § 155 Abs. 1 FamFG die Verfahrensdauer verkürzen solle, indem Verfahrensverzögerungen vermieden werden und das Verfahren zu einem zügigen Abschluss gebracht werde. Dabei könne nicht generell festgelegt werden, ab wann ein Verfahren nicht beschleunigt durchgeführt werde. Beschleunigung sei kein Selbstzweck. Es sei eine Orientierung am Kindeswohl geboten, welches das Beschleunigungsgebot präge und gleichzeitig begrenze. Insofern sei eine einzelfallbezogene Betrachtung angezeigt. In diesem Zusammenhang sei zu untersuchen, ob im konkreten Fall nicht zu rechtfertigende Verzögerungen relevanten Ausmaßes eingetreten seien. Es gelte zu verhindern, dass sich während des Verfahrens Bindungs- und Beziehungsverhältnisse veränderten, die durch eine spätere gerichtliche Entscheidung nur noch nachvollzogen werden könnten.
Im vorliegenden Fall habe das Amtsgericht bereits unmittelbar nach der Trennung der Eltern sichergestellt, dass der Kontakt zwischen dem Vater und seinen Kindern aufrecht erhalten bleiben konnte, so dass einer Entfremdung entgegengewirkt worden sei. Die nunmehr im Raum stehende geringfügige Abänderung der bestehenden Umgangsregelung sei unter Beschleunigungsgesichtspunkten weniger dringlich. Hinzu komme, dass es in den beiden das Umgangs- und Sorgerecht betreffenden Verfahren um hoch komplexe Fragestellungen gehe. Beide Eltern hätten jeweils Anträge und Wideranträge gestellt, die teilweise während der Verfahren modifiziert worden seien. Deshalb könne allein in der Verfahrensdauer von etwas über einem Jahr keine Verletzung des Vorrang- und Beschleunigungsgebots gesehen werden.
Es sei weiter zu berücksichtigen, dass dem Amtsgericht bei der Gestaltung der Verfahren ein Spielraum zukomme. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sei die Beachtung des Vorrang- und Beschleunigungsgebots und nicht die Überprüfung der Richtigkeit der Verfahrensführung. Unter diesem Gesichtspunkt könne im vorliegenden Fall auch in der Verfahrensführung kein Verstoß gegen das Vorrang- und Beschleunigungsgebot erkannt werden. Die eingetretenen Verzögerungen gingen auf die Eltern selbst zurück. So habe beispielsweise die Kindesmutter einen Antrag wegen Besorgnis der Befangenheit gestellt und ihren Verfahrensbevollmächtigten im Laufe des Verfahrens gewechselt. Eine besondere Schwierigkeit liege zudem in dem Vorwurf der Kindesmutter den sexuellen Missbrauch der Kinder durch enge Verwandte des Vaters betreffend. Es sei als sachgerecht anzusehen, wenn das Amtsgericht hier Erkenntnisse aus den laufenden Ermittlungsverfahren in seine Beurteilungen einbeziehen wolle. Weiterhin sei es während der Verfahren zu einem erneuten sexuellen Kontakt zwischen den Kindeseltern und einer darauf beruhenden Schwangerschaft der Kindesmutter gekommen. Insofern habe das Amtsgericht prüfen wollen, ob sich die Einstellung der Eltern zueinander verändert habe. Als eine weitere neue Entwicklung sei zu würdigen gewesen, dass die Mutter den Kindern heimlich einen Spionagestick mitgegeben habe, was die Erziehungseignung der Kindesmutter in Frage stelle. Das OLG Stuttgart sieht zwar bei isolierter Betrachtung kleinere Verzögerungen in der Verfahrensgestaltung des Amtsgerichts, hält diese jedoch bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung für noch nicht relevant. Dies wird damit begründet, dass nicht von dem Maßstab eines „idealen Richters“ auszugehen sei. Vielmehr sei mit Blick auf den konkreten Einzelfall ein objektiver Maßstab entscheidend.
Abschließend weist das OLG Stuttgart noch darauf hin, dass das Amtsgericht selbst in den Verfahren, in denen eine Beschleunigungsbeschwerde erhoben worden sei, das Ausgangsverfahren möglichst weiter fortführen und bereits begonnene Maßnahmen fortsetzen müsse. Dabei bleibe die Verpflichtung des Amtsgerichts unberührt, die Akten nach Eingang der Beschleunigungsbeschwerde dem Beschwerdegericht unverzüglich vorzulegen (§ 155c Abs. 1 Satz 3 FamFG).

C. Kontext der Entscheidung

Aus den bisher ergangenen Entscheidungen lassen sich folgende Leitlinien entnehmen:
1. Der Gesetzgeber hat bewusst keine Verfahrenshöchstdauer festgelegt. Das Beschleunigungsgebot ist kein Selbstzweck. Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Gefahr besteht, dass die Entscheidung durch Zeitablauf faktisch präjudiziert wird (Besprechungsentscheidung Rn. 51; KG Berlin, Beschl. v. 31.01.2017 – 13 WF 12/17 Rn. 13; OLG Bremen, Beschl. v. 02.02.2017 – 4 UF 13/17 Rn. 10).
2. Eine relevante Verfahrensverzögerung liegt nur dann vor, wenn diese aus der Sphäre des Gerichts stammt (Rn. 71; KG Berlin, Beschl. v. 31.01.2017 – 13 WF 12/17 Rn. 19).
3. Eine Verletzung des Vorrang- und Beschleunigungsgebots kann sich sowohl aus der zeitlichen Dauer des Verfahrens als auch aus der Verfahrensführung ergeben (Rn. 53, 68; KG Berlin, Beschl. v. 31.01.2017 – 13 WF 12/17 Rn. 13, 19).
4. Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot ist nur verletzt, wenn die bisherige Verfahrensdauer darauf hindeutet, dass bereits tatsächlich eine Verfahrensverzögerung eingetreten ist. Eine möglicherweise künftig eintretende Verfahrensverzögerung kann nicht Gegenstand des Verfahrens sein (OLG Bremen, Beschl. v. 02.02.2017 – 4 UF 13/17 Rn. 15).
5. Sachentscheidungen sind nicht am Maßstab des Vorrang- und Beschleunigungsgebots zu messen (Rn. 83; KG Berlin, Beschl. v. 31.01.2017 – 13 WF 12/17 Rn. 26).

D. Auswirkungen für die Praxis

Der elektronische Rechtsverkehr wird es ermöglichen, dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot effektiv nachzukommen (vgl. zu diesem Aspekt bereits Herberger, jurisPR-FamR 9/2017 Anm. 6). Das OLG Stuttgart betont den Parallellauf zwischen dem Verfahren der Beschleunigungsbeschwerde und dem Ausgangsverfahren. Trotz Beschleunigungsbeschwerde – die Akten sind nach Eingang der Beschleunigungsbeschwerde dem Beschwerdegericht vorzulegen (§ 155 Abs. 1 Satz 3 FamFG) – ist das Ausgangsverfahren fortzuführen, wobei insbesondere bereits begonnene Maßnahmen fortzuführen sind. Diesbezüglich wird die elektronische Akte sowohl zur Verfahrensvereinfachung als auch zur Verfahrensbeschleunigung beitragen, weil auf diese Weise mehrere Personen zeit- und ortsunabhängig gleichzeitig mit ein und derselben Akte arbeiten können.