Nachfolgend ein Beitrag vom 7.11.2016 von Selder, jurisPR-SteuerR 45/2016 Anm. 3

Leitsätze

1. Der Kindergeldanspruch eines in Deutschland wohnhaften polnischen Staatsangehörigen für sein in Polen im Haushalt eines Pflegeelternteils lebendes Kind kann nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 durch den vorrangigen Kindergeldanspruch des Pflegeelternteils verdrängt werden.
2. Der Begriff der „beteiligten Personen“ i.S.d. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist im Hinblick auf das Kindergeld nach dem EStG nach Art. 1 lit. i Nr. 1 lit. i und nicht nach Art. 1 lit. i Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 zu bestimmen. Zu den „beteiligten Personen“ gehören daher die nach dem nationalen Recht Anspruchsberechtigten und damit auch ein Pflegeelternteil i.S.d. § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG.
3. § 32 Abs. 2 Satz 2 EStG, wonach ein im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandtes Kind, das zugleich ein Pflegekind ist, vorrangig als Pflegekind zu berücksichtigen ist, findet im Kindergeldrecht weder direkt noch analog Anwendung.

A. Problemstellung

Zur Kindergeldberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten mit Bezug zum EU-Ausland gibt es umfangreiche Rechtsprechung. Das Besprechungsurteil betrifft den bislang noch nicht entschiedenen Fall, in dem ein Kind nicht bei einem im EU-Ausland lebenden Elternteil wohnt, sondern bei Personen, die als Pflegeeltern in Betracht kommen und deshalb möglicherweise einen eigenen Anspruch auf Kindergeld nach deutschem Recht haben.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der in Deutschland lebende Kläger, ein polnischer Staatsangehöriger, ist Vater einer Tochter und eines im Jahr 1995 geborenen Sohnes. Der Sohn lebt in Polen im Haushalt der Schwester und des Schwagers des Klägers. Der Kläger ist in Deutschland als selbstständiger Unternehmer tätig, die Mutter der Kinder wohnt in Großbritannien. Der Kläger beantragte in Deutschland für seine beiden Kinder Kindergeld, die Familienkasse lehnte den Antrag ab. Dagegen wandte sich der Kläger mit Einspruch und Klage.
Das Finanzgericht gab der Klage zum Teil statt und verpflichtete die Familienkasse, für die Tochter von Januar 2007 bis Juni 2008 und für den Sohn ab Januar 2007 Kindergeld festzusetzen (FG Düsseldorf, Urt. v. 28.11.2012 – 15 K 4263/11 Kg).
Gegen das FG-Urteil wandte sich die Familienkasse mit der Revision, und zwar insoweit, als es die Verpflichtung zur Festsetzung von Kindergeld für den Sohn betraf. Der BFH hat das Urteil des Finanzgerichts insoweit aufgehoben und die Streitsache zurückverwiesen.
Zunächst trat der BFH der Auffassung der Familienkasse entgegen, wonach ein etwaiges in Polen bestehendes Pflegekindschaftsverhältnis zwischen dem Sohn und der Schwester oder dem Schwager des Klägers den Kindergeldanspruch des Klägers ausschließe. Zwar heißt es in § 32 Abs. 2 Satz 2 EStG, dass ein Kind, das mit dem Steuerpflichtigen im ersten Grad verwandt und zugleich ein Pflegekind ist, vorrangig als Pflegekind zu berücksichtigen ist. Jedoch findet diese Regelung im Kindergeldrecht (§§ 62 ff. EStG) keine Anwendung. § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG verweist nur auf § 32 Abs. 3 bis 5 EStG, nicht jedoch auf § 32 Abs. 2 EStG. Insoweit besteht auch keine Regelungslücke, denn es soll vermieden werden, dass die kindbedingten Entlastungen nach § 32 Abs. 6 EStG für Pflegekinder sowohl bei den Pflegeeltern als auch bei den leiblichen Eltern berücksichtigt werden (BT-Drs. 13/1558, S. 155). Eine derartige Doppelberücksichtigung scheidet im Kindergeldrecht aus, weil der Anspruch auf Kindergeld nur einer Person vorrangig zustehen kann. Das Konkurrenzverhältnis zwischen mehreren Anspruchsberechtigten wird durch § 64 Abs. 1 und Abs. 2 EStG aufgelöst.
Da der Kindsvater in Deutschland, die Kindsmutter in Großbritannien und das Kind in Polen bei Personen lebt, die als Pflegeeltern in Betracht kommen, kann es konkurrierende Ansprüche auf Familienleistungen geben. Das Finanzgericht hat jedoch zur Frage, ob nach polnischem oder britischem Recht ein Anspruch auf Familienleistungen besteht, keine eigenen Feststellungen getroffen. Es hat hierzu lediglich ausgeführt, dass der Kläger die ausländische Rechtslage zutreffend wiedergegeben habe und dass die Familienkasse hierzu keine Einwendungen erhoben habe. Nähere Feststellungen hat es nicht getroffen. Insoweit hatte das Finanzgericht jedoch eine Ermittlungspflicht (BFH, Urt. v. 13.06.2013 – III R 10/11 – BStBl II 2014, 706; Anm. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 44/2013 Anm. 5; BFH, Urt. v. 13.06.2013 – III R 63/11 – BStBl II 2014, 711).
Sollte für den Sohn ein Anspruch auf Familienleistungen nach polnischem oder britischem Recht bestanden haben, wäre die Anspruchskonkurrenz aufzulösen. Für den Zeitraum Januar 2007 bis April 2010 ist hierfür die EU-Verordnung Nr. 1408/71 heranzuziehen; hierzu verwies der BFH auf seine einschlägige Rechtsprechung (z.B. BFH, Urt. v. 12.09.2013 – III R 16/11 – BFH/NV 2014, 320).
Für die Zeit nach April 2010 ist auf die VO Nr. 883/2004 sowie auf die dazu ergangene Durchführungsverordnung Nr. 987/2009 zurückzugreifen. Hierzu hat der EuGH (Urt. v. 22.10.2015 – C-378/14 – DStRE 2015, 1501) aufgrund eines entsprechenden Vorabentscheidungsersuchens des BFH in der Rechtssache „Trapkowski“ entschieden, dass die in Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 enthaltene Fiktion, die – sinngemäß – besagt, dass der Elternteil, der zusammen mit dem Kind im EU-Ausland wohnt, so zu behandeln ist, als würde er im Land des die Familienleistungen beanspruchenden Elternteils leben, auf die persönliche Anspruchsberechtigung durchschlägt. Da nach deutschem Recht bei getrennt lebenden Eltern der Kindergeldanspruch dem Elternteil vorrangig zusteht, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG), kann der mit dem Kind im EU-Ausland lebende Elternteil Anspruch auf deutsches Kindergeld haben. Der BFH hat die Rechtsprechung des EuGH umgesetzt (z.B. BFH, Urt. v. 13.04.2016 – III R 14/13 – BFH/NV 2016, 1464). Es handelte sich bisher um Fälle, in denen darüber zu entscheiden war, ob der Anspruch dem in Deutschland lebenden oder dem im EU-Ausland lebenden (leiblichen) Elternteil zusteht. Im Streitfall geht es nicht um leibliche Eltern, sondern möglicherweise um Pflegeeltern. Der BFH hat im Besprechungsurteil klargestellt, dass in solchen Fällen keine anderen Grundsätze gelten. Auch ein Pflegeelternteil kann eine „beteiligte Person“ i.S.d. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 sein. Wer eine solche Person ist, bestimmt sich nach nationalem Recht. Pflegeeltern sind nach deutschem Recht kindergeldberechtigt und können daher Familienangehörige sein (§§ 62 Abs. 1 i.V.m. 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG). Allerdings steht der Anspruch nicht „den Pflegeeltern“ zu, sondern nur einem der beiden.
Das Finanzgericht wird im zweiten Rechtsgang nicht nur zu prüfen haben, ob ein Anspruch auf Familienleistungen nach polnischem oder britischem Recht besteht, sondern – für die Zeit ab Mai 2010 – auch, ob die Schwester und der Schwager des Klägers als Pflegeeltern zu beurteilen sind und deshalb einem der beiden der Kindergeldanspruch zusteht. Dies hätte allerdings zur Voraussetzung, dass das Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen dem Sohn und den leiblichen Eltern nicht mehr besteht (vgl. BFH, Urt. v. 20.07.2006 – III R 44/05 – BFH/NV 2007, 17).

C. Kontext der Entscheidung

Durch das Besprechungsurteil werden die Rechtsgrundsätze der „Trapkowski“-Entscheidung des EuGH fortentwickelt. Darin hat der EuGH zum Ausdruck gebracht, dass die Frage, wer als beteiligte Person i.S.d. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 anzusehen ist, nach nationalem Recht zu beurteilen ist. Bei einem Pflegekindschaftsverhältnis ist somit nicht ein leiblicher Elternteil, sondern ein Pflegeelternteil Familienangehöriger und damit anspruchsberechtigt. Klarheit herrscht nunmehr auch darüber, dass die Regelung des § 32 Abs. 2 Satz 2 EStG, wonach Pflegeeltern gegenüber den leiblichen Eltern vorrangig sind, nur die kindbedingten Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG betrifft, nicht jedoch das Kindergeld.
Sollte die in Großbritannien lebende Kindsmutter nach dortigem Recht einen Anspruch auf Familienleistungen haben, ergibt sich eine Anspruchskonkurrenz, die für die Zeit ab Mai 2010 nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 aufzulösen ist. Da das Kind, für das Kindergeld begehrt wird, nicht in Deutschland oder in Großbritannien lebt, sondern in einem anderen EU-Staat, kann der Wohnort des Kindes nicht für das Vorrangverhältnis ausschlaggebend sein. Sollten sowohl der Kläger als auch die Kindsmutter beschäftigt oder selbstständig erwerbstätig gewesen sein, so hat der Staat das Kindergeld zu zahlen, der die höheren Leistungen vorsieht; der andere Staat erstattet dem ersten die Hälfte dieser Leistungen, maximal in Höhe der eigenen Familienleistungen (Art. 58 der VO Nr. 987/2009).

D. Auswirkungen für die Praxis

Das Urteil zeigt auch, dass an die Feststellung ausländischen Rechts in Kindergeldsachen hohe Anforderungen gestellt werden. Ein Finanzgericht muss sogar dann eigene Feststellungen treffen, wenn zwischen den Verfahrensbeteiligten keine unterschiedlichen Auffassungen über die ausländische Rechtslage bestehen.