Nachfolgend ein Beitrag vom 1.3.2016 von Hamdan, jurisPR-FamR 5/2016 Anm. 6

Orientierungssätze

1. Die Entscheidung, Impfungen gegen Tetanus, Diphtherie, Masern und Pneumokokken vorzunehmen, ist eine sogenannte Entscheidung in allen Angelegenheiten des täglichen Lebens i.S.d. § 1687 Abs. 1 Satz 2 BGB. Die Entscheidung trifft derjenige sorgeberechtigte Elternteil, bei welchem die Kinder sich gewöhnlich aufhalten (Anschluss OLG Frankfurt, Beschl. v. 07.06.2010 – 2 WF 117/10 – FamRZ 2011, 47).
2. Die Entscheidung Kinder nicht zu impfen ist nicht mehr „alltäglich“ i.S.d. § 1687 Abs. 1 Satz 2 BGB. Die Folgen des Nichtimpfens sind gegebenenfalls derart gravierend, dass die Angelegenheit erhebliche Bedeutung erlangen kann.

A. Problemstellung

Die Entscheidung betrifft einmal mehr die Abgrenzung zwischen Entscheidungen in Angelegenheiten des täglichen Lebens, die derjenige sorgeberechtigte Elternteil treffen kann, bei welchem sich ein Kind gewöhnlich aufhält, und solchen von erheblicher Bedeutung, für die das Einvernehmen beider Eltern erforderlich ist. Konkret hatte sich das AG Darmstadt mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Impfung gegen Tetanus, Diphtherie, Masern und Pneumokokken als eine Alltagssorgeentscheidung qualifiziert werden kann.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Beteiligten, sorgeberechtigte Elternteile zweier Kinder, die zum Zeitpunkt der Entscheidung bei der Kindesmutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, waren sich zunächst darüber einig, ihre Kinder in den ersten Lebensjahren nicht zu impfen. Nach ärztlicher Beratung entschied sich die Kindesmutter dazu, die Impfungen gegen Keuchhusten, Pneumokokken, Tetanus und Diphtherie sowie die Pneumokokkenimpfung nach den Empfehlungen der sogenannten „ständigen Impfkommission“ doch durchführen zu lassen. Ihrer Bitte, seine Zustimmung zu den geplanten Impfungen zu erteilen, kam der Kindesvater und Antragsgegner nicht nach.
Die Kindesmutter beantragte daraufhin, ihr gemäß § 1628 BGB die Alleinentscheidungsbefugnis hinsichtlich der Durchführung der genannten Impfungen zu übertragen. Zwar wies das AG Darmstadt diesen Antrag zurück. Zugleich legte es den Antrag der Kindesmutter jedoch dahin gehend aus, dass sie die Feststellung begehre, die in Frage stehenden Impfungen vornehmen zu können. Diesen Feststellungsantrag sah das Amtsgericht als begründet an.
Nach Auffassung des Amtsgerichts bedurfte es nämlich gerade keiner Übertragung der Alleinentscheidungsbefugnis gemäß § 1628 Satz 1 BGB. Vielmehr seien die empfohlenen Schutzimpfungen der Alltagssorge zuzuordnen. Zudem entspreche es der häufigen und regelmäßigen Vornahme dieser Impfungen und somit auch der Lebenswirklichkeit, dass die Entscheidung von demjenigen Elternteil zu treffen sei, bei welchem sich die Kinder gewöhnlich aufhielten. Hierfür spreche nicht zuletzt, dass die in Rede stehenden Impfungen die unmittelbare Gesundheitssorge betreffen würden und von den durchgeführten Impfungen auch das Verhalten im Alltag abhinge. Beispielhaft weist das AG Darmstadt darauf hin, dass eine nichtvorhandene Tetanusimpfung den betreuenden Elternteil davon abhalten könne, die Kinder an bestimmten Stellen im Freien spielen zu lassen. Daher sei es folgerichtig, die Entscheidung durch den Elternteil treffen zu lassen, bei welchem sich die Kinder gewöhnlich aufhalten. Schließlich sei dieser Elternteil regelmäßig auch derjenige, welcher über den Gesundheitszustand der Kinder am besten informiert sei.

C. Kontext der Entscheidung

Veröffentlichte Rechtsprechung zu der Frage, ob die Entscheidung, Schutzimpfungen bei einem gemeinsamen Kind durchführen zu lassen, eine „alltägliche“ ist, gibt es bislang kaum. Während das KG Berlin dies wegen der Gefahr von Komplikationen und Nebenwirkungen auch bei üblichen Schutzimpfungen abgelehnt hatte (KG Berlin, Beschl. v. 18.05.2005 – 13 UF 12/05), hatte das OLG Frankfurt diese Frage für eine Schweinegrippeimpfung bejaht (OLG Frankfurt, Beschl. v. 07.06.2010 – 2 WF 117/10 Rn. 13).
Auch für das AG Darmstadt gehört die Entscheidung über die Durchführung der üblichen und empfohlenen Schutzimpfungen zu den Angelegenheiten des täglichen Lebens. Damit übernimmt das AG Darmstadt die Abgrenzung zwischen § 1687 BGB und § 1628 BGB zutreffend auch für den Bereich der Schutzimpfungen. Bei fortgesetzter gemeinsamer elterlicher Sorge regelt § 1687 BGB nämlich die Handlungs- und Vertretungsermächtigungen der Eltern dahin gehend, dass in Angelegenheiten des täglichen Lebens eine Alleinentscheidungsbefugnis desjenigen Elternteils besteht, bei dem das Kind lebt. Lediglich bei Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung müssen die anstehenden Entscheidungen in gegenseitigem Einvernehmen beider Elternteile getroffen werden (§ 1687 Satz 1 BGB) und ggf. eine gerichtliche Übertragung der Entscheidungsbefugnis nach § 1628 BGB beantragt werden.
Diese Abgrenzung gilt grundsätzlich auch für Angelegenheiten der Gesundheitssorge. Entscheidungen im Rahmen der gewöhnlichen medizinischen Versorgung wie Vorsorge- und Routineuntersuchungen einschließlich empfohlener Schutzimpfungen fallen regelmäßig in den Katalog der Alltagssorge, für die derjenige Elternteil, bei dem sich das Kind aufhält, die alleinige Entscheidungsbefugnis hat (OLG Frankfurt, Beschl. v. 07.06.2010 – 2 WF 117/10 Rn. 13). Anders dürfte indes der Sachverhalt zu beurteilen sein, in dem ein Kind einer besonderen Risikogruppe angehört und die Risiken und Nebenwirkungen von Impfungen deutlich höher sind.

D. Auswirkungen für die Praxis

§ 1628 BGB und damit die Notwendigkeit, bei Meinungsverschiedenheit zwischen den sorgeberechtigten Eltern eine gerichtliche Übertragung der Entscheidungsbefugnis einholen zu müssen, dürfte vielmehr im umgekehrten Fall zur Anwendung kommen. Soll nämlich gerade von einer – generell empfohlenen – Impfung abgesehen werden, handelt es sich je nach Impfung nämlich nicht mehr um eine „alltägliche“ Entscheidung i.S.v. § 1687 Abs. 1 Satz 2 BGB. Denn die Folgen des Nichtimpfens sind ggf. derart gravierend, dass die Angelegenheit erhebliche Bedeutung erlangen kann.