Nachfolgend ein Beitrag vom 16.2.2016 von Adamus, jurisPR-FamR 4/2016 Anm. 4

Orientierungssatz zur Anmerkung

Die langfristige örtliche Abwesenheit des Kindes von den in der Heimat verbliebenen Eltern stellt einen Grund für die Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge gemäß § 1674 Abs. 1 BGB dar, wenn den Eltern die Aufsicht oder die jederzeitige Übernahme der Personen- und Vermögenssorge für das Kind zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung auch mit Hilfe moderner Kommunikationsmittel nicht möglich ist.

A. Problemstellung

Das OLG Hamm befasst sich mit der Frage, ob die langfristige örtliche Trennung von Eltern und Kind die Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge begründen kann, wenn die Eltern nur theoretisch mit Hilfe moderner Kommunikationsmittel zum Zwecke der Einflussnahme auf die Erziehung Kontakt mit dem minderjährigen Kind herstellen könnten.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Jugendliche mit albanischer Staatsangehörigkeit reiste 2015 im Einverständnis mit seinen Eltern in das Bundesgebiet ein. Die Kindeseltern befinden sich im Heimatland des Jugendlichen. Das Jugendamt nahm den Jugendlichen in Obhut und brachte ihn in einer Wohngruppe unter. Der Jugendliche hat die theoretische Möglichkeit, über seinen Bruder mittels eines Facebook-Accounts mit seinen Eltern Kontakt aufzunehmen.
Das Jugendamt hat beantragt, das Ruhen der elterlichen Sorge der im Ausland lebenden Eltern festzustellen. Das Familiengericht hat den Antrag mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Voraussetzungen des § 1674 Abs. 1 BGB nicht vorlägen, weil die Kindeseltern kurzfristig mit modernen Kommunikationsmitteln erreichbar seien und die Möglichkeit bestünde, dass die Eltern auf diesem Weg Vollmachten für die Rechtsausübung vor Ort ausstellen könnten.
Die Beschwerde des Jugendamtes ist nach Auffassung des OLG Hamm begründet. Die Voraussetzungen des § 1674 Abs. 1 BGB liegen nach Auffassung des Oberlandesgerichts vor. Die elterliche Sorge ruhe, wenn das Familiengericht feststelle, dass die Kindeseltern auf längere Zeit die elterliche Sorge tatsächlich nicht ausüben könnten. Ein solches tatsächliches Ausübungshindernis sei anzunehmen, wenn der wesentliche Teil der Sorgerechtsverantwortung nicht mehr von den Eltern selbst ausgeübt werden könne.

C. Kontext der Entscheidung

Dem OLG Hamm ist zuzustimmen, dass eine Ruhensanordnung nicht aufgrund einer bloßen physischen Abwesenheit der Eltern anzuordnen ist, wenn die Eltern oder ein Elternteil ihr/sein Kind gut versorgt wissen/weiß und auf der Grundlage moderner Kommunikationsmittel oder Reisemöglichkeiten auch aus der Ferne Einfluss auf die Ausübung der elterlichen Sorge nehmen kann. Etwa wenn das Kind bei Bekannten im Ausland untergebracht ist und dahin Kontakt gehalten werden kann (wie bei OLG Koblenz, Beschl. v. 24.02.2011 – 11 UF 153/11) oder ein Elternteil bei dem Kind ist. Bei langfristiger Abwesenheit von der Familie ist deswegen entscheidend darauf abzustellen, ob dem Elternteil die Möglichkeit verblieben ist, entweder im Wege der Aufsicht oder durch jederzeitige Übernahme der Personen- und Vermögenssorge zur eigenverantwortlichen Ausübung zurückzukehren (BGH, Beschl. v. 06.10.2004 – XII ZB 80/04 – FamRZ 2005, 29).
Im vorliegenden Fall besteht keine gesicherte Kommunikationsmöglichkeit zu den Kindeseltern. Die Anschrift der Kindeseltern ist nicht bekannt. Der Jugendliche hat weder die Anschrift der Kindeseltern noch andere moderne Kommunikationsmöglichkeiten (Telefonnummer, Facebook- oder Twitter-Account, E-Mail-Adresse) benennen können. Dies zeigt, dass die Kindeseltern derzeit nicht in der Lage sind, die Personensorge (sachgerecht) auszuüben. Eine lediglich theoretische Möglichkeit der Kontaktaufnahme über Dritte (Bruder des Jugendlichen) reicht nicht aus, den ständig gebotenen Einfluss auszuüben (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 11.04.1991 – 16 Wx 43/91 – FamRZ 1992, 1093; LG Frankenthal, Beschl. v. 25.10.1993 – 1 T 316/93 – DAVorm 1993, 1237). Auch der Umstand, dass der Jugendliche im Einverständnis mit seinen Eltern sein Heimatland verlassen hat und die Kindeseltern diesen faktisch aus ihrer elterlichen Gewalt entlassen haben, zeigt, dass sich der Jugendliche – jedenfalls in rechtlicher Hinsicht – allein überlassen ist und alle damit im Zusammenhang stehenden Nachteile zu tragen hat. Aufgrund der fehlenden rechtlichen Vertretung ist es seither nicht möglich, für den Jugendlichen Entscheidungen zu treffen. Ausländerrechtliche Fragen können nicht geklärt werden, so dass der Jugendliche keine Perspektive entwickeln kann.

D. Auswirkungen für die Praxis

Bei langfristiger örtlicher Trennung des Kindes von den sorgeberechtigten Eltern ist zu ermitteln, ob die abwesenden Eltern durch Verwendung von Kommunikationsmitteln in der Lage sind, Einfluss auf die Ausübung der elterlichen Sorge nehmen zu können oder aber zeitnah zur eigenverantwortlichen Sorgerechtsausübung zurückkehren könnten. Letzteres kann bei alleinreisenden Jugendlichen, deren Eltern sich selbst auf der Flucht befinden und weder über die finanzielle noch tatsächliche, legale Möglichkeit verfügen nach Deutschland zu reisen, ausgeschlossen werden. Selbst wenn eine Kontaktaufnahme über Kommunikationsmittel möglich wäre, stellt sich weiterhin die Frage, wie denn allein hierdurch das Sorgerecht verantwortlich ausgeübt werden kann. Notwendig erscheint daher zumindest eine weitere, ggfs. von den Eltern bevollmächtigte und zur Ausübung des Sorgerechts befähigte Person, die stellvertretend für die Eltern erzieherisch auf das Kind einwirken und für das Kind handeln kann. Ist eine geeignete Person nicht vorhanden, ist das Ruhen der Sorge anzuordnen und ein Vormund zu bestellen.