Nachfolgend ein Beitrag vom 20.6.2017 von Viefhues, jurisPR-FamR 12/2017 Anm. 4

Leitsätze

1. Die Kosten für eine medizinisch notwendige kieferorthopädische Behandlung des minderjährigen Kindes stellen – soweit hierfür nicht die Krankenkasse aufkommt – einen unterhaltsrechtlichen Sonderbedarf dar, für den beide Elternteile quotal, entsprechend dem Verhältnis ihrer Einkünfte einzustehen haben.
2. Auch bei der Verpflichtung des Unterhaltsschuldners zur Zahlung eines unterhaltsrechtlichen Sonderbedarfs bestimmt sich seine Leistungsfähigkeit nicht allein nach den tatsächlich vorhandenen Einkünften, sondern darüber hinaus auch durch seine Arbeitsfähigkeiten und Erwerbsmöglichkeiten, so dass eine Zurechnung fiktiver Einkünfte in Betracht kommt, wenn der Unterhaltspflichtige eine ihm nach den Umständen des Einzelfalls zumutbare Erwerbstätigkeit nicht wahrnimmt, obwohl er dies könnte.
3. Eine erhaltene Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes ist unter Berücksichtigung der Differenz zwischen früherem und jetzigem Einkommen auf ein Jahr umzulegen.

A. Problemstellung

Die Entscheidung des Kammergerichts befasst sich mit der Frage der Haftung der Eltern eines minderjährigen Kindes für dessen kieferorthopädische Behandlung.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Konkret hat sich der Kindesvater gegen seine vom Amtsgericht ausgesprochene Verpflichtung gewandt, insgesamt 1.500 Euro nebst Zinsen zu zahlen.
Die Beschwerde blieb vor dem KG Berlin ohne Erfolg.
Der Anspruch auf Zahlung dieses Betrages ergebe sich aus § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Danach könne der Unterhaltsberechtigte wegen eines außergewöhnlich hohen Unterhaltsbedarfs (Sonderbedarf) vom Verpflichteten über den laufenden Unterhalt hinaus Zahlung verlangen. Das KG Berlin hat die für die Anerkennung eines unterhaltsrechtlichen Sonderbedarfs notwendigen Voraussetzungen bejaht.
Die aufgrund einer Fehlstellung des kindlichen Gebisses erforderlich gewordene kieferorthopädische Behandlung und die hierfür anfallenden Kosten, soweit sie nicht von einer Krankenversicherung bzw. -kasse abgedeckt werden, gehörten grundsätzlich zum Lebensbedarf des Kindes und würden daher von dessen Unterhaltsanspruch mit umfasst. Allerdings fielen derartige Kosten nicht regelmäßig an, weil es sich bei einer kieferorthopädischen Behandlung zur Beseitigung einer Gebissfehlstellung regelmäßig um eine einmalige Behandlung (ggf. mit mehreren Sitzungen) handele, die überraschend auftrete und bei der die Behandlungskosten nicht im Vorhinein abschätzbar seien, so dass es letztlich nicht möglich sei, die anfallenden Kosten durch eine entsprechend großzügigere Kalkulation des laufenden Unterhalts aufzufangen.
Im Verhältnis zum laufenden Unterhalt sei ein Betrag von 1.700 Euro auch außergewöhnlich hoch, denn er betrage deutlich mehr als das Vierfache des gezahlten monatlichen Unterhaltsbetrages.
Die medizinische Notwendigkeit der Behandlung sei durch eine ärztliche Bescheinigung nachgewiesen; zudem sei der Antragsgegner auch mit der Behandlung einverstanden.
Für den Sonderbedarf des gemeinsamen Kindes haften beide Eltern grundsätzlich quotal entsprechend ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen, wobei jedoch vor der Ermittlung der beiderseitigen Haftungsquoten der angemessene Selbstbehalt von 1.300 Euro in Abzug zu bringen sei.

C. Kontext der Entscheidung

Mehrbedarf ist ein regelmäßig auftretender Bedarf, der in der Regel auch vorhersehbar ist, während Sonderbedarf bei einem unregelmäßigen und außergewöhnlich hohen Bedarf vorliegt. Beim Sonderbedarf handelt es sich um einen überraschenden, nicht mit Wahrscheinlichkeit vorhersehbaren und der Höhe nach nicht abschätzbaren Bedarf, der deshalb im laufenden Unterhalt nicht angesetzt werden konnte und folglich eine zusätzliche Unterhaltsleistung rechtfertigt (BGH, Urt. v. 15.02.2006 – XII ZR 4/04 – FamRZ 2006, 612; zur recht kasuistischen Abgrenzung vgl. Viefhues in: jurisPK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 1613 Rn. 161 ff.).

D. Auswirkungen für die Praxis

Für die Frage, wer in welchem Umfang für die als notwendig anerkannten Kosten einzustehen hat, ist die Einstufung als Mehrbedarf oder Sonderbedarf unerheblich, denn es gelten in beiden Fällen die gleichen Grundsätze.
Die Unterscheidung hat allerdings große verfahrensrechtliche Bedeutung. Sonderbedarf, der ja nach seiner Definition einmalig und unvorhersehbar ist, kann daher zum einen rückwirkend geltend gemacht werden im Rahmen der Zeitschranke des § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB (Jahresfrist) und zum anderen auch isoliert unabhängig vom laufenden Unterhaltsanspruch.
Dagegen kann Mehrbedarf nach der h.M. rückwirkend nur dann durchgesetzt werden, wenn der Zahlungspflichtige entsprechend in Verzug gesetzt worden ist. Auch soll Mehrbedarf nicht isoliert durchgesetzt werden können, sondern nur im Zusammenhang mit dem laufenden Unterhalt. Dies löst vor allem dann Probleme aus, wenn über den laufenden Unterhalt bereits ein gerichtlicher Titel ergangen ist zu einem Zeitpunkt, in dem der Mehrbedarf bereits absehbar war. Wird dann unter Hinweis auf den Mehrbedarf eine Abänderung des Titels zur Erhöhung des titulierten Betrages verlangt, muss mit dem Präklusionseinwand gerechnet werden.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Auch bei der Haftung für unterhaltsrechtlichen Sonderbedarf bestimmt sich die Leistungsfähigkeit nicht allein nach den tatsächlich vorhandenen Einkünften, sondern darüber hinaus auch durch die Arbeitsfähigkeiten und Erwerbsmöglichkeiten. Folglich ist auch hier die Anrechnung fiktiver Einkünfte dann möglich, wenn der Unterhaltspflichtige eine ihm nach den Umständen des Einzelfalls zumutbare Erwerbstätigkeit nicht wahrnimmt, obwohl er dies könnte.
Eine für den Verlust des Arbeitsplatzes erhaltene Abfindung i.H.v. 90.000 Euro brutto legt das Kammergericht unter Berücksichtigung der Differenz zwischen früherem und jetzigen Einkommen auf ein Jahr um. Hiervon kann allerdings nur der Nettobetrag angerechnet werden.
Das KG Berlin hat weiter klargestellt, dass die Kindesmutter, die vom Kindesvater getrennt lebt, auch berechtigt ist, den unterhaltsrechtlichen Sonderbedarf der gemeinsamen Tochter im eigenen Namen geltend zu machen (§ 1629 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB).