Nachfolgend ein Beitrag vom 14.11.2016 von Selder, jurisPR-SteuerR 46/2016 Anm. 4

Leitsatz

Allein der Umstand, dass ein sorgeberechtigter Elternteil, der sein minderjähriges Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat, für sich und sein Kind Leistungen nach dem SGB II bezieht, rechtfertigt nicht die Übertragung des diesem für sein Kind zustehenden Kinderfreibetrags und des Freibetrags für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf auf den anderen Elternteil, der den Barunterhalt für das gemeinsame Kind leistet.

A. Problemstellung

Das Kindergeld kann nicht aufgeteilt, sondern nur einem Berechtigten gewährt werden, auch dann nicht, wenn die Eltern getrennt leben. Dagegen stehen die kindbedingten Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG jedem einzelnen Elternteil (bzw. Pflegeelternteil) zu. Leistet ein Elternteil keinen oder nur geringen Unterhalt, so braucht er nicht steuerlich entlastet zu werden. Für solche Fälle sieht das Gesetz eine Übertragung der kindbedingten Freibeträge von einem Elternteil auf den anderen vor. Im Besprechungsfall war darüber zu entscheiden, ob der Bezug von SGB II-Leistungen durch einen Elternteil eine Übertragung der kindbedingten Freibeträge auf den anderen Elternteil, der Barunterhalt leistet, rechtfertigt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Kläger sind zur Einkommensteuer zusammen veranlagte Eheleute. Die Klägerin ist die Mutter einer im Jahr 1996 geborenen Tochter (T), die nicht im Haushalt der Kläger, sondern in dem des sorgeberechtigten Kindsvaters (V) lebte. Dort war sie auch polizeilich gemeldet. Die Klägerin leistete für T Unterhalt. V bezog für sich und T Leistungen nach dem SGB II. Die Kläger beantragten in der Einkommensteuererklärung für das Jahr 2013 die Berücksichtigung der (doppelten) kindbedingten Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG, d.h. auch der Freibeträge, die auf V entfielen. Das Finanzamt lehnte eine Übertragung der Freibeträge ab, die sich im Jahr 2013 auf 2.184 Euro (sächliches Existenzminimum – Kinderfreibetrag) und 1.320 Euro (Betreuungs-, Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf – BEA-Freibetrag) je Elternteil beliefen. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Der BFH wies die dagegen gerichtete Revision der Kläger zurück. Er führte zur Begründung aus:
Es ist zu unterscheiden zwischen der Übertragung des Kinderfreibetrags und des BEA-Freibetrags. Der Kinderfreibetrag wird nach § 32 Abs. 6 Satz 6 EStG bei einem unbeschränkt steuerpflichtigen Elternpaar, bei dem die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG (Ehegattenveranlagung) nicht vorliegen, auf Antrag eines Elternteils auf ihn übertragen, wenn er, nicht jedoch der andere Elternteil seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind für das Kalenderjahr im Wesentlichen nachkommt oder der andere Elternteil mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist. Die Unterhaltspflicht richtet sich nach Zivilrecht. Nach § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB erfüllt der Elternteil, der ein minderjähriges unverheiratetes Kind betreut, seine Verpflichtung, zum Unterhalt des Kindes beizutragen, in der Regel durch dessen Pflege und Erziehung. Der nicht betreuende Elternteil ist zur Entrichtung einer Geldrente verpflichtet (§ 1612 Abs. 1 Satz 1 BGB). Der Gesetzgeber geht von der Gleichwertigkeit der Erfüllung der Unterhaltspflicht durch Geldzahlung einerseits und durch Betreuung andererseits aus. Wird lediglich Betreuungsunterhalt geschuldet, dann genügt es, wenn ein Elternteil dieser Verpflichtung nachkommt. Die Übertragung des Kinderfreibetrags auf den Elternteil, der das Kind durch Geldzahlungen unterhält, scheidet in diesen Fällen aus, weil der Elternteil, der – wie im Streitfall – Betreuungsleistungen erbringt, seine Unterhaltspflicht nicht verletzt.
Auch eine Übertragung des Kinderfreibetrags nach § 32 Abs. 6 Satz 6 Alt. 2 EStG – keine Unterhaltspflicht mangels Leistungsfähigkeit – kam nicht in Betracht, da der sorgeberechtigte V zum Unterhalt verpflichtet war, und zwar zum Unterhalt durch Betreuung. Allein der Umstand, dass V SGB II-Leistungen bezog, führte somit noch nicht dazu, dass die Klägerin die Übertragung des Kinderfreibetrags beanspruchen konnte.
Eine Übertragung des BEA-Freibetrags von V auf die Klägerin scheiterte nicht bereits daran, dass der Kinderfreibetrag nicht übertragen werden konnte. Die Übertragungsmöglichkeit besteht bei den unterschiedlichen kindbedingten Freibeträgen unabhängig voneinander. Eine Übertragung des BEA-Freibetrags war im Streitfall deshalb nicht möglich, weil T in der Wohnung des V polizeilich gemeldet war. Nach § 32 Abs. 6 Satz 8 EStG kann der BEA-Freibetrag, der demjenigen Elternteil zusteht, in dessen Wohnung das minderjährige Kind nicht gemeldet ist, übertragen werden. Eine Übertragung von dem Elternteil, in dessen Wohnung das Kind gemeldet ist, auf den anderen Elternteil sieht das Gesetz nicht vor. In diesem Zusammenhang hatten die Kläger geltend gemacht, dass nicht verheiratete Eltern im Vergleich zu verheirateten in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise ungleich behandelt werden. Diese Auffassung teilte der BFH nicht. Eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung liegt nicht vor, wenn nicht verheiratete Eltern nicht in gleichem Maße oder sogar noch höher als verheiratete Eltern wegen kindbedingter Aufwendungen steuerlich entlastet werden (BFH, Urt. v. 26.02.2002 – VIII R 90/98 – BFH/NV 2002, 1137). Es genügt, wenn jeder einzelne Elternteil die ihm zustehende Entlastung erhält.

C. Kontext der Entscheidung

Das Urteil betrifft die kinderbedingten Freibeträge für ein minderjähriges Kind. Bei volljährigen Kindern ändert sich die Rechtslage, da die Gleichwertigkeit von Barunterhalt und Betreuungsunterhalt nur für minderjährige Kinder gilt (§ 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB). Lebt ein volljähriges Kind noch bei einem Elternteil, so ist der Naturalunterhalt auf die Verpflichtung zur Leistung von Barunterhalt anzurechnen. Eine Übertragung des Kinderfreibetrags auf den Elternteil, der Barzahlungen leistet, ist nur dann möglich, wenn dieser, nicht jedoch der andere Elternteil seiner Unterhaltspflicht „im Wesentlichen“ nachkommt (§ 32 Abs. 6 Satz 6 EStG). Die Wesentlichkeitsgrenze liegt nach Ansicht der Finanzverwaltung bei 75% (EStR 32.13 Abs. 3). Diese Grenze ist von der Rechtsprechung gebilligt worden (BFH, Urt. v. 12.04.2000 – VI R 148/97 – BFH/NV 2000, 1194).

D. Auswirkungen für die Praxis

Kommt es zu einer Übertragung des Kinderfreibetrags oder des BEA-Freibetrags, so geschieht dies dadurch, dass das Finanzamt den Freibetrag desjenigen berücksichtigt, der den Übertragungsantrag nach seiner Ansicht zu Recht gestellt hat. Es ergeht kein eigener Übertragungsverwaltungsakt (a.A. Jachmann-Michel in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 32 D 15). Im Besprechungsurteil hat der BFH zu dieser Rechtsfrage nicht ausdrücklich Stellung genommen. Aus dem Umstand, dass der BFH über die – hier nicht mögliche – Übertragung der kindbedingten Freibeträge entschieden hat, ohne die Rechtsfrage in ein eigenes Verwaltungsverfahren zu verlagern, ist zu ersehen, dass der BFH ein solches Verfahren nicht als notwendig ansieht. Hat ein Finanzamt einen kindbedingten Freibetrag auf einen Elternteil übertragen, obwohl ein anderes Finanzamt den Freibetrag beim anderen Elternteil angesetzt hat, so kann der für Letzteren ergangene Einkommensteuerbescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO geändert werden (rückwirkendes Ereignis). In einem etwaigen Klageverfahren ist endgültig über die Übertragung zu entscheiden. Eine Beiladung nach § 60 Abs. 3 FGO ist nicht notwendig. Das Finanzamt hat zuvor schon die Möglichkeit, den Elternteil, der den kindbedingten Freibetrag nicht erhalten soll, nach § 174 Abs. 5 AO hinzuzuziehen.