Nachfolgend ein Beitrag vom 15.3.2016 von Viefhues, jurisPR-FamR 6/2016 Anm. 1

Leitsätze

1. Auch bei einem minderjährigen Unterhaltsberechtigten kommt die Zurechnung fiktiver Einkünfte in Betracht, wenn dieser dauerhaft dem Schulunterricht fernbleibt und auch keiner gesetzlich erlaubten Erwerbstätigkeit nachgeht. Dies gilt aber dann nicht, wenn der betroffene Minderjährige noch der gesetzlichen Schulpflicht unterliegt.
2. Im Rahmen von § 1603 Abs. 2 BGB hat der barunterhaltspflichtige Elternteil auch den Vermögensstamm (hier: Erlös aus der Veräußerung einer Immobilie) einzusetzen, soweit sein Einkommen nicht ausreicht, den Mindestunterhalt des Kindes zu decken und dies im Einzelfall zumutbar ist.

A. Problemstellung

Grundsätzlich ist ein minderjähriges Kind unterhaltsberechtigt, weil es in der Regel die Schule besucht oder eine Ausbildung absolviert. In Einzelfällen kommt es vor, dass das noch minderjährige Kind nicht mehr zur Schule geht und auch keinerlei Anstalten macht, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, um seinen Unterhalt durch eigene Leistung sicherzustellen. Fraglich ist dann, ob dennoch ein Unterhaltsanspruch gegen einen Elternteil gegeben ist.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der minderjährige Antragsteller begehrt von dem Antragsgegner, seinem Vater, Mindestunterhalt. Er hat zunächst seit April 2014 die Schule nicht mehr besucht und behauptet nunmehr, sich zum neuen Schuljahr an einer Erziehungshilfeschule beworben zu haben. Zudem macht er geltend, noch bis 31.07.2015 gesetzlich schulpflichtig zu sein.
Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass der Antragsgegner seinem Sohn, dem Antragsteller, den gesetzlichen Mindestunterhalt nach Maßgabe der §§ 1601, 1603 Abs. 2 BGB schuldet. Obwohl der Antragsteller unstreitig seit April 2014 die Schule nicht mehr besucht hat, besteht sein Unterhaltsanspruch jedenfalls bis zur Beendigung des noch laufenden Schuljahres fort.
Auch bei Minderjährigen erfolgt die Berücksichtigung fiktiver Einkünfte, soweit eine gesetzliche Schulpflicht nicht mehr besteht und unter Berücksichtigung der gesetzlichen Bestimmungen des Jugendarbeitsschutzes eine Erwerbsstätigkeit des Minderjährigen zur Deckung des eigenen Bedarfs erwartet werden kann (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.06.2010 – II-8 WF 117/10 – FamRZ 2010, 2082; OLG Brandenburg, Beschl. v. 23.08.2004 – 9 WF 157/04 – MDR 2005, 340).
Allerdings bestand eine gesetzliche Schulpflicht des Antragstellers noch bis zum Abschluss des laufenden Schuljahres. Für Schüler, die nach Beendigung der Vollzeitschulpflicht weder eine weiterführende Schule besuchen noch in ein Ausbildungsverhältnis oder eine Maßnahme der Bundesagentur für Arbeit eintreten, wird die Vollzeitschulpflicht gemäß § 59 Abs. 3 des hessischen Schulgesetzes um ein weiteres Jahr verlängert, sodass diese für den Antragsteller erst zum 31.07.2015 beendet ist. Da an die Erfüllung der Schulpflicht u.a. Ordnungswidrigkeiten geknüpft sind, die nach § 181 Abs. 1 Nr. 1 des hessischen Schulgesetzes auch den betroffenen Schüler nach Vollendung des 14. Lebensjahres selbst treffen, kann in unterhaltsrechtlicher Hinsicht keine Obliegenheit für den Minderjährigen bestehen, trotz Fernbleibens vom Schulunterricht einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.06.2010 – II-8 WF 117/10 – FamRZ 2010, 2082).
Unerheblich ist, ob und aus welchen Gründen das staatliche Schulamt vorliegend davon abgesehen hat, den Schulbesuch des Antragstellers mit Ordnungs- oder Zwangsmitteln herbeizuführen. Denn dieser Umstand war von dem Antragsteller nicht vorherzusehen. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang auch, dass den Antragsteller in schulrechtlicher Hinsicht eine Mitwirkungspflicht zur Aufnahme einer weiterführenden schulischen Maßnahme getroffen hat. Deren Verletzung kann in unterhaltsrechtlicher Hinsicht nicht sanktioniert werden. Es lag bei bestehender gesetzlicher Schulpflicht in der Verantwortungssphäre des Antragsgegners und der mitsorgeberechtigten Mutter des Antragstellers, für einen Schulbesuch des Antragstellers die erforderlichen erzieherischen Maßnahmen zu treffen. Selbst wenn der Kindesmutter, wie vom Antragsgegner behauptet, hier Versäumnisse vorzuwerfen sein sollten, führt dies nicht zu einer Beeinträchtigung des Unterhaltsanspruchs des Antragstellers, weil er insoweit für das Verhalten seiner Mutter nicht einzustehen hat.

C. Kontext der Entscheidung

Die Tatsache, dass sich für den minderjährigen Schüler, der nach Beendigung seiner Vollzeitschulpflicht weder eine weiterführende Schule besuchen noch in ein Ausbildungsverhältnis oder eine Maßnahme der Bundesagentur für Arbeit eintreten will, die Vollzeitschulpflicht nach dem Schulgesetz um ein weiteres Jahr verlängert, führt dazu, dass er aus unterhaltsrechtlicher Sicht von Erwerbsobliegenheiten freigestellt ist. Die Verletzung seiner Obliegenheit, die Schule zu besuchen, kann – so das OLG Frankfurt – in unterhaltsrechtlicher Hinsicht nicht sanktioniert werden. Der Vorwurf des Oberlandesgerichts richtet sich allein an die Eltern; sie hätten für einen Schulbesuch des Antragstellers die erforderlichen erzieherischen Maßnahmen treffen müssen. Folglich kann der Antragsteller – trotzt völliger Untätigkeit – Unterhalt beanspruchen!
Beim volljährigen Kind wird dagegen die Obliegenheit gegenüber den Unterhalt zahlenden Eltern bejaht, die Ausbildung mit Fleiß und der gebotenen Zielstrebigkeit in einer angemessenen und üblichen Zeit durchzuführen und erfolgreich abzuschließen (BGH, Urt. v. 14.03.2001 – XII ZR 81/99 – NJW 2001, 2170). Verletzt das Kind nachhaltig diese Obliegenheit, büßt es seinen Unterhaltsanspruch ein und muss sich darauf verweisen lassen, seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit selbst zu verdienen (vgl. BGH, Urt. v. 14.03.2001 – XII ZR 81/99 – NJW 2001, 2170; BGH, Urt. v. 04.03.1998 – XII ZR 173/96 – NJW 1998, 1555; OLG Naumburg, Beschl. v. 26.10.1999 – 3 WF 142/99 – FamRZ 2001, 440; OLG Karlsruhe, Urt. v. 25.03.1994 – 2 UF 195/93 – FamRZ 1994, 1342).

D. Auswirkungen für die Praxis

Das OLG Frankfurt weist jedenfalls darauf hin, dass dem Kind nach dem Ende seiner Schulpflicht fiktive Einkünfte zuzurechnen sein werden, sollte es zum neuen Schuljahr den Schulbesuch nicht fortsetzen. Denn minderjährige Kinder, die nicht mehr den Einschränkungen des JugArbSchG und der vollzeitigen Schulpflicht unterliegen, sind von einer Erwerbspflicht jedenfalls nicht grundsätzlich entbunden (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.06.2010 – II-8 WF 117/10 – FamRZ 2010, 2082, m.w.N.; vgl. auch Viefhues in: jurisPK-BGB, § 1603 Rn. 57 ff.).

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Das OLG Frankfurt befasst sich auch mit fiktiven Einkünften auf Seiten des unterhaltspflichtigen Vaters und verweist darauf, dass der Unterhaltspflichtige die volle Darlegungs- und Beweislast für eine geltend gemachte vollständige oder teilweise Leistungsunfähigkeit trägt, wobei dies die Behauptung umfasst, es fehle eine entsprechende Beschäftigungsmöglichkeit (BGH, Beschl. v. 22.01.2014 – XII ZB 185/12 – FamRZ 2014, 637). Im Rahmen dieser gesteigerten Unterhaltspflicht besteht nach § 1603 Abs. 2 BGB auch eine Pflicht des Unterhaltsschuldners zur Verwertung seines Vermögens, sofern sein Einkommen nicht ausreicht, um den Unterhaltsbedarf des Berechtigten zu decken (BGH, Urt. v. 21.04.2004 – XII ZR 326/01 – FamRZ 2004, 1184; BGH, Urt. v. 19.12.1989 – IVb ZR 9/89 – FamRZ 1990, 269; OLG Schleswig, Beschl. v. 13.04.2012 – 10 UF 324/11 – FamRZ 2012, 1575).
Soweit sich der Kindesvater auf gesundheitliche Gründe beruft, konnte sein Vorbringen die von ihm behauptete Erwerbsunfähigkeit nicht stützen. Aus den von ihm vorgelegten ärztlichen Unterlagen lässt sich gerade nicht entnehmen, dass er infolge einer Herzerkrankung bei Bluthochdruck und infolge von Funktionsstörungen der Wirbelsäule und der Gliedmaßen erwerbsunfähig wäre. Er sei lediglich nicht dazu in der Lage, Tätigkeiten auszuüben, die mit häufigem Heben und Tragen ohne mechanische Hilfsmittel, Klettern, Steigen oder Bewegen in unebenem Gelände, häufigem Knien oder Hocken und hohen körperlichen Belastungen verbunden sind. Seinem Antrag, ein arbeitsmedizinisches Sachverständigengutachten einzuholen, war daher mangels Darlegung von Anknüpfungstatsachen nicht nachzukommen. Er habe sich aber nicht hinreichend um eine entsprechende Beschäftigung bemüht (zu den notwendigen Darlegungen des Unterhaltspflichtigen bei Erkrankungen vgl. auch KG Berlin, Beschl. v. 01.06.2015 – 13 UF 40/15 – FuR 2015, 732).
Zudem sei er gehalten gewesen, das ihm zugeflossene Vermögen aus der Veräußerung seines Wohnhauses zur Deckung des Mindestunterhalts seines Kindes einzusetzen und entsprechende Rücklagen zu bilden, soweit er diese nicht zur Erfüllung weiterer Unterhaltsansprüche oder anderer berücksichtigungswürdiger Verbindlichkeiten benötigt hat (zur Pflicht des Unterhaltsberechtigten zum Vermögenseinsatz siehe OLG Zweibrücken, Beschl. v. 16.10.2015 – 2 UF 107/15).