Nachfolgend ein Beitrag vom 12.4.2016 von Viefhues, jurisPR-FamR 8/2016 Anm. 5

Leitsätze

1. Dem Unterhaltspflichtigen darf auch bei einem Verstoß gegen seine Erwerbsobliegenheit nur ein Einkommen zugerechnet werden, welches von ihm realistischerweise zu erzielen ist.
2. Als realistisch erzielbar kann auch ein Einkommen angesehen werden, das der Unterhaltspflichtige in der Vergangenheit – wenn auch nur vorübergehend – tatsächlich erzielt hat und er trotz entsprechender Auflagen der Gerichte keinerlei Erwerbsbemühungen nachweist.

A. Problemstellung

Bei verschärfter Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kindern beruft sich der in Anspruch genommene Elternteil in der Praxis regelmäßig darauf, dass er lediglich Sozialleistungen bezieht und daher nicht leistungsfähig sei. Das OLG Hamm macht in seiner Entscheidung deutlich, dass diese Abwehrstrategie in aller Regel keine Aussicht auf Erfolg hat.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Antragstellerin ist die minderjährige Tochter des Antragsgegners, die im Haushalt ihrer Mutter lebt. Der Antragsgegner hat den Hauptschulabschluss nach der Klasse 10 erworben und eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner begonnen, aber nicht abgeschlossen. In der Folgezeit arbeitete er bei unterschiedlichen Zeitarbeitsfirmen. In einer Autowäsche erzielte er in der Vergangenheit ein monatliches Nettoeinkommen von 1.318 Euro. Seit 2014 ist er arbeitslos und bezieht Leistungen nach dem SGB II.
Das Familiengericht hat ihm aufgegeben, seine Ausbildungs- und Erwerbsbiografie und seine Bewerbungsbemühungen der letzten Wochen detailliert darzustellen und ihn sodann verpflichtet, Kindesunterhalt von 236 Euro mtl. zahlen. Er habe seiner gesteigerten Erwerbsobliegenheit nicht genügt. Sein Hinweis auf eine nicht abgeschlossene Berufsausbildung und auf den aktuellen Bezug von Sozialleistungen reiche dafür nicht aus, seine Leistungsunfähigkeit zu begründen. Vor seiner Arbeitslosigkeit habe er noch eine Erwerbstätigkeit ausgeübt. Das damals erzielte Einkommen sei als für ihn real erzielbar fiktiv zuzurechnen.
Die Beschwerde hatte vor dem OLG Hamm keinen Erfolg. Wenn der Unterhaltsverpflichtete im Falle der verschärften Haftung nach § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese bei gutem Willen ausüben könnte, können deswegen nach Auffassung des Oberlandesgerichts auch fiktiv erzielbare Einkünfte berücksichtigt werden.
Die Zurechnung fiktiver Einkünfte, in die auch mögliche Nebenverdienste einzubeziehen sind, setze zwar neben den nicht ausreichenden Erwerbsbemühungen eine reale Beschäftigungschance des Unterhaltspflichtigen voraus. Für die Feststellung, dass für einen Unterhaltsschuldner keine reale Beschäftigungschance bestehe, seien jedoch – insbesondere im Bereich der gesteigerten Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB – strenge Maßstäbe anzulegen. Für gesunde Arbeitnehmer im mittleren Erwerbsalter werde auch in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit regelmäßig kein Erfahrungssatz dahin gebildet werden können, dass sie nicht in eine vollschichtige Tätigkeit zu vermitteln seien. Dies gelte auch für ungelernte Kräfte (vgl. BGH, Beschl. v. 22.01.2014 – XII ZB 185/12 Rn. 13, m.w.N. – FamRZ 2014, 637). Auch die bisherige Tätigkeit des Unterhaltsschuldners – etwa im Rahmen von Zeitarbeitsverhältnissen – sei noch kein hinreichendes Indiz dafür, dass es ihm nicht gelingen könne, eine besser bezahlte Stelle zu finden. Das gelte auch dann, wenn der Unterhaltspflichtige überwiegend im Rahmen von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen i.S.v. § 8 Abs. 1 SGB IV gearbeitet habe (vgl. BGH, Beschl. v. 22.01.2014 – XII ZB 185/12 Rn. 13 – FamRZ 2014, 637).
Der Unterhaltspflichtige habe sich unter Einsatz aller zumutbaren und möglichen Mittel nachhaltig darum zu bemühen, eine angemessene Tätigkeit zu finden, wozu die bloße Meldung beim Arbeitsamt nicht genüge. Die Bewerbungsbemühungen müssten die nötige Nachhaltigkeit erkennen lassen und dürften keine ungeklärten zeitlichen Lücken aufweisen (vgl. BGH, Urt. v. 30.07.2008 – XII ZR 126/06 Rn. 18 – FamRZ 2008, 2104). Der Beweis, dass für den Unterhaltspflichtigen keine reale Erwerbsmöglichkeit für eine Vollzeittätigkeit bestehe, werde regelmäßig mangels gegenteiliger Erfahrungssätze nur durch den Nachweis zu führen sein, dass der Unterhaltspflichtige sich hinreichend um eine Erwerbstätigkeit bemüht habe.
Vorliegend fehle jeglicher Vortrag des Antragsgegners zu seinen Erwerbsbemühungen und – trotz der gerichtlichen Auflage – seiner Ausbildungs- und Erwerbsbiographie. Ohne ausreichende Erwerbsbemühungen könne nicht festgestellt werden, dass er kein Erwerbseinkommen erzielen könnte, mit dem er den begehrten Kindesunterhalt zahlen könne.
Es könne auch nicht festgestellt werden, dass er das geschätzte Einkommen nicht erzielen könne. Er sei noch jung und habe keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Er habe in einer Autowäscherei das zugrunde gelegte Einkommen tatsächlich erzielt. Es seien keine durchgreifenden Gründe benannt, dass er bei ausreichenden Bemühungen ein solches Nettoeinkommen inklusive Überstundenvergütung nicht wieder erzielen könnte.

C. Kontext der Entscheidung

Die Entscheidung fügt sich ein in die Rechtsprechung der übrigen Oberlandesgerichte zur Anrechnung fiktiver Einkünfte (z.B. OLG Jena, Beschl. v. 19.03.2015 – 1 UF 637/14; vgl. auch OLG Brandenburg, Beschl. v. 10.03.2014 – 3 UF 67/13 – FuR 2015, 418 zu fiktiven Einkünften bei Aufgabe einer gut bezahlten Erwerbstätigkeit). Jedoch sind Einschränkungen im – konkret darzulegenden – Einzelfall möglich (OLG Dresden, Beschl. v. 28.11.2014 – 20 UF 857/14 – FamRZ 2015, 936 = FuR 2015, 676: Einschränkung der verschärften Haftung bei Umschulung; OLG Hamm, Beschl. v. 24.04.2015 – II-12 UF 225/14: Erstausbildung des unterhaltspflichtigen Elternteils).
Rein vorsorglich hat das OLG Hamm darauf hingewiesen, dass die vom Statistischen Bundesamt erfassten Durchschnittslöhne in Deutschland auch für ungelernte Arbeitskräfte einen deutlich höheren Bruttostundenlohn als 10 Euro ausweisen (vgl. www.destatis.de; siehe aber OLG Schleswig, Beschl. v. 12.01.2015 – 10 UF 171/14 – NJW 2015, 1538: Mindestlohn bei fiktivem Einkommen). Daher könne der Unterhaltspflichtige den Nachweis, er könne den geforderten Kindesunterhalt nicht bzw. nicht in voller Höhe zahlen, nur durch eine ausreichende Anzahl von Bewerbungen führen.
Selbst wenn der Antragsgegner den Kindesunterhalt ganz oder teilweise nicht aus dem mit einer Haupterwerbstätigkeit erzielten Einkommen sicherstellen kann, komme die zusätzliche Aufnahme einer Nebentätigkeit in Betracht (zu Einschränkungen der Nebentätigkeitsobliegenheit vgl. OLG Rostock, Beschl. v. 05.02.2015 – 11 UF 138/13 – FamRZ 2015, 937 = FuR 2015, 740).

D. Auswirkungen für die Praxis

Dem Unterhaltspflichtigen darf auch bei einem Verstoß gegen seine Erwerbsobliegenheit nur ein Einkommen zugerechnet werden, welches von ihm realistischerweise zu erzielen ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.08.2014 – 1 BvR 192/12 Rn. 17 – FamRZ 2014, 1977; BVerfG, Beschl. v. 18.06.2012 – 1 BvR 1530/11 Rn. 15 – FamRZ 2012, 1283; BVerfG, Beschl. v. 11.03.2010 – 1 BvR 3031/08 – FamRZ 2010, 793, 794; BGH, Beschl. v. 22.01.2014 – XII ZB 185/12 Rn. 9 – FamRZ 2014, 637). Das bedeutet aber nicht, dass der Unterhaltspflichtige hierzu nichts vortragen muss. Vielmehr ist grundsätzlich von seiner Leistungsfähigkeit auszugehen. Es ist seine Aufgabe, ganz konkret darzulegen, wann in seinem Fall eine Ausnahme gemacht werden muss. Dazu gehören einmal umfassende Darlegungen zu den Erwerbsbemühungen; also konkret, wie er sich um eine neue Arbeitsstelle bemüht hat (zu den strengen Anforderungen der Rechtsprechung siehe Viefhues in: jurisPK-BGB, 2014, § 1603 Rn. 550 ff., m.w.N.; Brudermüller in: Palandt, BGB, 74. Aufl. 2015, § 1603 Rn. 43, m.w.N.).
Die Darlegungs- und Beweislast für seine mangelnde Leistungsfähigkeit liegt beim Unterhaltspflichtigen, was auch für das Fehlen einer realen Beschäftigungschance gilt (vgl. BGH, Beschl. v. 22.01.2014 – XII ZB 185/12 Rn. 11 – FamRZ 2014, 637; BGH, Urt. v. 18.01.2012 – XII ZR 178/09 Rn. 30 – FamRZ 2012, 517). Er muss in nachprüfbarer Weise vortragen, welche Schritte er im Einzelnen in welchem zeitlichen Abstand in dieser Richtung unternommen hat.
Bei der Höhe des erzielbaren Einkommens orientiert man sich in der Regel an seinem früheren Verdienst, den er vor dem Verlust seiner letzten Arbeitsstelle erzielt hat. Beruft er sich darauf, dass dieses Einkommen nicht mehr erzielbar ist, ist es wiederum seine Aufgabe, die Gründe hierfür detailliert vorzutragen. Er muss auch Angaben zu seinem beruflichen Werdegang machen, um dem Gericht eine sachgerechte Schätzung nach § 287 ZPO zu geben.