Nachfolgend ein Beitrag vom 1.8.2017 von Viefhues, jurisPR-FamR 15/2017 Anm. 5

Leitsätze

1. Zum Ausbildungsunterhalt in den sog. Abitur-Lehre-Studium-Fällen (hier: anästhesietechnische Assistentin – Medizinstudium).
2. Die Leistung von Ausbildungsunterhalt für ein Studium des Kindes kann einem Elternteil unzumutbar sein, wenn das Kind bei Studienbeginn bereits das 25. Lebensjahr vollendet und den Elternteil nach dem Abitur nicht über seine Ausbildungspläne informiert hat, so dass der Elternteil nicht mehr damit rechnen musste, noch auf Ausbildungsunterhalt in Anspruch genommen zu werden.

Orientierungssatz zur Anmerkung

Wenn der Vater eines volljährigen Kindes keine Kenntnis über dessen Absicht hat, ein Studium aufzunehmen, besteht für das Kind, das nach Erlangung der Hochschulreife eine studiennahe Berufsausbildung absolviert und über einen nicht unerheblich langen Zeitraum (hier über zwei Jahre) in dem erlernten Beruf gearbeitet hat, kein Anspruch auf weitergehenden Unterhalt.

A. Problemstellung

Beginnt ein volljähriges Kind sein Studium erst mit Verzögerung, weil der Abiturnotendurchschnitt nicht zu einem sofortigen Studienbeginn berechtigte, stellt sich die Frage, ob die Eltern für dieses Studium dennoch Unterhalt leisten müssen. Weiter kompliziert wird die Situation dann noch, wenn der jetzt auf in Unterhalt Anspruch genommene Elternteil aus anderen Gründen gar nicht mehr mit der Aufnahme eines Studiums gerechnet hat. Der BGH schafft Klarheit in diesen Fallgestaltungen.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Beteiligten streiten um Unterhalt für eine volljährige Tochter, die im Jahr 2004 das Abitur mit einem Notendurchschnitt von 2,3 bestanden hatte. Damals teilte der Vater, der mit der Mutter und der Tochter nie zusammengelebt hatte, ihr schriftlich mit, dass er davon ausgehe, nach dem Abschluss der Schule keinen weiteren Unterhalt mehr zahlen zu müssen. Nachdem keine Antwort kam, stellte er seine Unterhaltszahlungen ein. Bereits nach Beendigung der Schule hatte die Tochter beschlossen, ein Medizinstudium zu beginnen. Sie bewarb sich durchgängig um einen Studienplatz, zunächst ohne Erfolg. Daher begann sie im Februar 2005 eine Lehre als anästhesietechnische Assistentin, die sie im Januar 2008 erfolgreich abschloss. Anschließend arbeitete sie in diesem Beruf bis sie für das Wintersemester 2010/2011 eine Studienplatzzusage erhielt und das Medizinstudium aufnahm. Nachdem sie BAföG beantragt hatte, machte das antragstellende Land gegenüber dem Vater Unterhalt aus übergeleitetem Recht geltend. Amtsgericht und Oberlandesgericht haben den Antrag abgewiesen.
Der BGH hat diese Entscheidung bestätigt und die Rechtsbeschwerde des Antragstellers zurückgewiesen.
Der Unterhalt eines Kindes umfasst nach Auffassung des BGH die Kosten einer angemessenen Berufsausbildung, die dessen Begabung und Fähigkeiten, dem Leistungswillen und den beachtenswerten Neigungen am besten entspricht und sich in den Grenzen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern hält.
Wenn ein Kind nach Erlangung der Hochschulreife auf dem herkömmlichen schulischen Weg (Abitur) eine praktische Ausbildung (Lehre) absolviert hat, sich erst danach zu einem Studium entschließt (sog. Abitur-Lehre-Studium-Fälle), die einzelnen Ausbildungsabschnitte in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang stehen und praktische Ausbildung und das Studium sich jedenfalls sinnvoll ergänzen, ist ein einheitlicher Ausbildungsgang gegeben, für den Unterhalt geschuldet wird. Entscheidet sich ein Kind für einen zulassungsbeschränkten Studiengang und entstehen aufgrund der Abiturnote Wartezeiten, so führt das für sich genommen nicht zur Unangemessenheit der angestrebten Ausbildung. Es kann lediglich zur Folge haben, dass das Kind seinen Bedarf während der Wartezeit durch eine eigene Erwerbstätigkeit sicherstellen muss.
Will das unterhaltsberechtigte Kind ein Studium aufnehmen, für das ein Numerus clausus besteht und reichen die Abiturnoten nicht für einen sofortigen Studienbeginn aus, muss das Kind durchgängige Bewerbungen um eine Zulassung vorlegen (vgl. auch OLG Hamm, Beschl. v. 12.03.2012 – 4 UF 232/11 – FuR 2012, 669). Ob auch Bemühungen um einen Studienplatz im Ausland zu fordern sind, hat der BGH nicht entschieden.
Der Annahme des erforderlichen zeitlichen Zusammenhangs steht dann auch nicht entgegen, dass das Kind mehr als zweieinhalb Jahre in dem erlernten Beruf gearbeitet hat. Mit der Berufstätigkeit ist es allein seiner Verpflichtung gerecht geworden, bis zur Aufnahme des Studiums selbst seinen Bedarf zu decken; denn für diese längere Übergangszeit besteht eine Erwerbsobliegenheit des Kindes. Die zwischen der praktisch-beruflichen Ausbildung und dem Studienbeginn vergangene Zeit ist auf zwangsläufige, dem Kind nicht anzulastende Umstände zurückzuführen.
Aufgrund des Gegenseitigkeitsprinzip steht der Verpflichtung des Unterhaltsschuldners zur Finanzierung einer Berufsausbildung beim Unterhaltsberechtigten die Obliegenheit gegenüber, sie mit Fleiß und der gebotenen Zielstrebigkeit in angemessener und üblicher Zeit aufzunehmen und zu beenden (Besprechungsentscheidung Rn. 14; BGH, Beschl. v. 08.03.2017 – XII ZB 192/16 Rn. 17 und BGH, Beschl. v. 03.07.2013 – XII ZB 220/12 Rn. 14 m.w.N. – FamRZ 2013, 1375). Bei einer nachhaltigen Verletzung dieser Obliegenheit, die Ausbildung planvoll und zielstrebig aufzunehmen und durchzuführen, büßt das Kind seinen Unterhaltsanspruch ein und muss sich darauf verweisen lassen, seinen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit selbst zu verdienen.
Ob den Eltern unter Berücksichtigung aller Umstände die Leistung von Ausbildungsunterhalt im Einzelfall noch zumutbar ist, wird nicht nur durch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Eltern bestimmt, sondern auch davon, ob und inwieweit sie damit rechnen müssen, dass ihr Kind weitere Ausbildungsstufen anstrebt. Denn zu den schützenswerten Belangen des Unterhaltspflichtigen gehört, sich in der eigenen Lebensplanung darauf einstellen zu können, wie lange die Unterhaltslast dauern wird. Eine Unterhaltspflicht wird daher umso weniger in Betracht kommen, je älter der Auszubildende bei Abschluss seiner praktischen Berufsausbildung ist und je eigenständiger es seine Lebensverhältnisse gestaltet (Rn. 16 m.w.N.). Hiervor geht ersichtlich auch der Gesetzgeber aus, wie etwa die Regelung in § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 BAföG belegt, wonach im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes Einkommen der Eltern außer Betracht bleibt, wenn das Kind bei Beginn des Ausbildungsabschnitts nach Abschluss einer vorhergehenden, zumindest dreijährigen berufsqualifizierenden Ausbildung drei Jahre oder im Falle einer kürzeren Ausbildung entsprechend länger erwerbstätig war.
Der BGH geht dann weiter auf die Frage ein, wie weit zwischen dem unterhaltsberechtigten Kind und dem Unterhaltspflichtigen eine Kommunikation über die Ausbildungspläne erfolgen muss.
Die Entscheidung erwähnt die generell bestehende eigene Nachfrageobliegenheit (vgl. dazu BGH, Urt. v. 12.05.1993 – XII ZR 18/92 – FamRZ 1993, 1057, 1059), deren Verletzung dem Vater hier nicht vorgeworfen werden kann. Zwar verlangt der Unterhaltsanspruch keine Abstimmung des Ausbildungsplans mit dem Unterhaltspflichtigen, jedoch kann es der Zumutbarkeit entgegenstehen, wenn der Unterhaltspflichtige von dem Ausbildungsplan erst zu einem Zeitpunkt erfährt, zu dem er nicht mehr damit rechnen muss, zu weiteren Ausbildungskosten herangezogen zu werden (vgl. aber auch OLG Hamm, Beschl. v. 12.03.2012 – 4 UF 232/11 – FuR 2012, 669).
Im konkreten Fall hat der BGH daher einen Unterhaltsanspruch aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles als unzumutbar verneint. Entscheidend war, dass der unterhaltspflichtige Elternteil von seiner Tochter zu keinem Zeitpunkt über ihre Ausbildungspläne in Kenntnis gesetzt worden ist und er – trotz einer entsprechenden Nachfrage – weder Informationen zum Schulabschluss noch zum angestrebten oder eingeschlagenen Ausbildungsgang seiner Tochter erhalten hat. Dieser dem Unterhaltspflichtigen nicht anzulastende Informationsmangel führte im Zusammenspiel mit dem Lebensalter der Tochter dazu, dass sein Vertrauen darauf, keinen Ausbildungsunterhalt mehr leisten zu müssen, als rechtlich schützenswert angesehen worden ist (vgl. aber auch OLG Hamm, Beschl. v. 12.03.2012 – 4 UF 232/11 – FuR 2012, 669).

C. Kontext der Entscheidung

Der BGH entwickelt seine Rechtsprechung zu den Zumutbarkeitsgesichtspunkten beim Volljährigenunterhalt konsequent fort. Relevant ist, ob die Eltern in der gerechtfertigten Erwartung eines früheren Ausbildungsabschlusses anderweitige, sie wirtschaftlich belastende Dispositionen getroffen haben. Auch sonst kann sich aus den Verhältnissen der Eltern wie ihrem Alter oder ihrer Lebensplanung ein zu berücksichtigendes Interesse an einer Entlastung von der Unterhaltspflicht ergeben. Da es sich hierbei um Einzelfallgesichtspunkte handelt, ist konkreter anwaltlicher Sachvortrag zu allen Zumutbarkeitsaspekten unverzichtbar.

D. Auswirkungen für die Praxis

Neben der bestehenden eigenen Nachfrageobliegenheit des Unterhaltspflichtigen besteht auch eine Informationsobliegenheit des unterhaltsberechtigten Kindes, die umso stärker ist, je mehr sich sein Ausbildungsplan vom „normalen Weg“ entfernt. Regelmäßige Informationen durch das Kind sind daher schon aus Eigeninteresse als „vertrauensbildende Maßnahmen“ zu empfehlen.
Je länger der Unterhaltspflichtige dagegen aufgrund von dem Kind vorwerfbaren Informationsmängeln berechtigterweise davon ausgehen kann, nicht mehr auf Unterhalt in Anspruch genommen zu werden, desto größer ist aus Sicht des Kindes die Gefahr, dass der Unterhaltspflichtige berechtigterweise finanzielle Dispositionen trifft, die das Kind später gegen sich gelten lassen muss. Dies kann einmal zur Folge haben, dass z.B. bestimmte Kreditraten dem Kind auf der Ebene der Leistungsfähigkeit entgegengehalten werden können. Möglich ist aber auch, dass sich aus diesem Dispositionen bereits ein so starker Vertrauensschutz entwickelt hat, der den Unterhaltsanspruch des Kindes gänzlich zum Wegfall bringt.
Dabei kommt es – so der BGH – nicht darauf an, ob durch diese Dispositionen die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit des Verpflichteten eingeschränkt oder gar aufgehoben war. Ohne Belang könnte dies nur bei außergewöhnlich guten finanziellen Verhältnissen des Elternteils sein, bei denen das Bestehen einer Unterhaltspflicht für langfristig wirkende finanzielle Entscheidungen keinen relevanten Gesichtspunkt darstellt.
Im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung ist auch von Bedeutung, ob und inwieweit die Eltern ihr Kind im Rahmen einer vorhergehenden Berufsausbildung unterstützen mussten (BGH, Beschl. v. 08.03.2017 – XII ZB 192/16 Rn. 27).