Nachfolgend ein Beitrag vom 9.5.2017 von Herberger, jurisPR-FamR 9/2017 Anm. 6

Leitsätze

1. Allein eine Verfahrensdauer von mehr als 2 1/2 Jahre führt in einem Umgangsverfahren für sich genommen nicht zu einer Verletzung des Vorrang- und Beschleunigungsgebots.
2. Begleitend zum Hauptverfahren erlassene einstweilige Anordnungen sind im Wege der Beschleunigungsbeschwerde (§ 155c FamFG) im Umgangsrecht nicht inhaltlich zu überprüfen; dies gilt auch für einen im Wege der einstweiligen Anordnung angeordneten befristeten Umgangsausschluss.
3. Das Unterlassen einer Fristsetzung für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens (§ 163 Abs. 1 FamFG) kann dann nicht zu einer Verletzung des Vorrang- und Beschleunigungsgebots führen, wenn das Gericht auf eine zeitnahe Erledigung drängt bzw. sachgerechte Gründe für eine Verzögerung gegeben sind.
4. Das Einholen eines zweiten Gutachtens ist eine mit der Beschleunigungsrüge nicht überprüfbare Sachentscheidung des entscheidenden Gerichts.

A. Problemstellung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat 2015 entschieden (EGMR, Urt. v. 15.01.2015 – 62198/11 Rn. 137), dass bei Verfahren, deren Dauer deutliche Auswirkungen auf das Familienleben hat (Art. 8 EMRK – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), der Staat verpflichtet sei, einen Rechtsbehelf zur Verfügung zu stellen, der gleichzeitig präventiv ist und Wiedergutmachung ermöglicht. Ausreichend sei nicht, wenn für die Betroffenen nur ein Rechtsbehelf existiere, der ex post auf eine Entschädigung in Geld gerichtet sei. Daraufhin hat der Gesetzgeber in Umsetzung dieses Urteils die Beschleunigungsrüge in § 155b FamFG und die Beschleunigungsbeschwerde in § 155c FamFG eingeführt (vgl. dazu BT-Drs. 18/9092, S. 2). Diese seit dem 15.10.2016 verfügbaren Rechtsbehelfe beschäftigen nunmehr die Gerichte.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Von 2009 bis zur Einleitung dieses Verfahrens wurden bereits 17 Verfahren vor dem AG Tempelhof-Kreuzberg zwischen den Eltern geführt, die den Umgang und die elterliche Sorge für die gemeinsamen Kinder betrafen. Da aus Sicht der Mutter ihre Anträge nicht vorrangig und beschleunigt genug durchgeführt wurden, hat sie zunächst eine Beschleunigungsrüge nach § 155b FamFG und anschließend eine Beschleunigungsbeschwerde nach § 155c FamFG eingelegt.
Das KG Berlin hat die Beschleunigungsbeschwerde zurückgewiesen
Eine Verletzung des Vorrangs- und Beschleunigungsgebotes nach § 155 Abs. 1 FamFG sei nicht feststellbar.
Allein in der zeitlichen Dauer des Verfahrens von mehr als zweieinhalb Jahren könne keine Verletzung des Vorrangs- und Beschleunigungsgebotes gesehen werden, weil der Gesetzgeber bewusst darauf verzichtet habe, eine Verfahrenshöchstdauer festzulegen. Das Beschleunigungsgebot solle verhindern, dass die Entscheidung durch Zeitablauf faktisch präjudiziert werde. Es sei hinsichtlich des konkreten Einzelfalles anhand eines objektiven Maßstabs zu beurteilen, ob ausreichende verfahrensfördernde Maßnahmen getroffen wurden. Dabei könne das Beschwerdegericht das Amtsgericht nicht zum Erlass einer konkreten einstweiligen Anordnung anweisen oder verbindliche Fristen für zu treffende Endentscheidungen setzen. Aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit sei dem Amtsgericht zudem die eigentliche Sachentscheidung zu überlassen. Deshalb könne dem Begehren der Mutter, dem Amtsgericht konkrete Regelungen hinsichtlich des Umgangs im einstweiligen Anordnungsverfahren aufzugeben, nicht gefolgt werden. Auch die begehrte Feststellung, dass das Verfahren jetzt zu beenden sei, könne nicht getroffen werden. Das Beschwerdegericht sei bei einer Beschleunigungsbeschwerde allein dazu in der Lage darzulegen, welche Verfahrensschritte notwendig oder bereits überfällig seien.
Im vorliegenden Fall sei im Rahmen der Beurteilung der Verfahrensdauer zudem zu berücksichtigen, dass die Mutter den Umgang zu den Kindern Ende April 2014 selbst abgebrochen habe.
Das Vorrangs- und Beschleunigungsgebot sei weiterhin nicht dadurch verletzt, dass der Antrag der Mutter vom 22.05.2014 nicht gemäß § 155 Abs. 2 Satz 2 FamFG innerhalb eines Monats, sondern erst am 01.07.2014 zu einem frühen ersten Termin geführt habe. Angesichts der bereits von den Eltern geführten zahlreichen Verfahren vor dem AG Tempelhof-Kreuzberg sei es nachvollziehbar, dass die Terminanberaumung der ordentlichen Dezernentin überlassen wurde, die sich gerade im Urlaub befand. Diese habe am 03.06.2014 eine Terminierung auf den 27.06.2014 verfügt. Da der Vater aufgrund eines beruflichen Termins außerhalb von Berlin an diesem Tage verhindert gewesen sei, wurde die Anhörung auf den 01.07.2014 verschoben. Weil der Verfahrensbevollmächtigte des Vaters diesen Termin nicht wahrnehmen konnte, habe eine weitere Verschiebung erfolgen müssen. Aufgrund dieser beachtlichen Gründe sei eine Terminierung ausnahmsweise später als einen Monat nach Einreichung des Antrags nachvollziehbar.
Eine weitere Verzögerung sei dadurch eingetreten, dass die Mutter zwei Ablehnungsgesuche eingereicht habe. Die dadurch verursachte Verzögerung beruhe nicht auf einer zögerlichen Behandlung des Verfahrens durch das Amtsgericht, sondern auf den unbegründeten Ablehnungsgesuchen der Mutter.
Dass dem Sachverständigen für die Erstellung eines Gutachtens keine neue Frist gesetzt wurde, sei ebenfalls unbeachtlich. Dadurch sei nämlich keine Verzögerung eingetreten. Die Erstellung des Gutachtens habe zwar etwa zehn Monate in Anspruch genommen. Diese Verzögerung beruhe jedoch nicht auf einer nachlässigen Verfahrensführung, sondern auf einer erneuten Dynamik, die aufgrund eines Streits zwischen dem Großvater väterlicherseits mit dem Ehemann der Mutter eingetreten sei.
Die Entscheidung des Amtsgerichts, eine weitere Begutachtung durchzuführen und dafür eine Frist zum 31.07.2017 zu setzen, sei nicht zu beanstanden. Die Beurteilung der Frage, ob ein weiteres Sachverständigengutachten notwendig sei, obliege dem Amtsgericht. Es sei ausreichend, dass hinreichende Sachgründe für ein neues Gutachten sprächen.

C. Kontext der Entscheidung

Zum jetzigen Zeitpunkt ist neben der Entscheidung des KG Berlin noch eine Entscheidung des OLG Bremen (OLG Bremen, Beschl. v. 02.02.2017 – 4 UF 13/17) zu den §§ 155b, 155c FamFG bei juris datenbankmäßig erfasst. Diese Entscheidung arbeitet besonders deutlich heraus, dass mit dem Rechtsbehelf des § 155b FamFG nur eine bereits tatsächlich eingetretene Verfahrensverzögerung gerügt werden kann und nicht eine solche, die voraussichtlich in der Zukunft eintreten wird (Rn. 15).
Wenn eine Beschleunigungsrüge bzw. eine Beschleunigungsbeschwerde nach den §§ 155b und 155c FamFG zur Verfügung steht, scheitert eine Vorabentscheidung durch das BVerfG nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG am Grundsatz der Subsidiarität (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 01.03.2017 – 1 BvR 2311/16 Rn. 3).

D. Auswirkungen für die Praxis

Sollte eine Kindschaftssache i.S.d. § 155 Abs. 1 FamFG anwaltlich betreut werden, sind die Mandanten im Rahmen der Beratung ggf. über die neuen Rechtsbehelfe der §§ 155b, 155c FamFG in Kenntnis zu setzen.
Dabei sollte freilich die Wertung der vorliegenden Entscheidung berücksichtigt werden, welche die Differenzierung zwischen Verzögerungsgründen aus der Sphäre des Gerichts und solchen aus der Sphäre des Mandanten deutlich macht. Es ist nicht zu verkennen, dass der Entscheidung des KG Berlin ein Sachverhalt zugrunde liegt, der durch ein fast exzessives Ausschöpfen aller denkbaren verfahrenstaktischen Möglichkeiten geprägt ist. Insofern darf nicht der falsche Eindruck entstehen, eine Verfahrensdauer von mehr als zweieinhalb Jahren in einem Umgangsverfahren sei generell mit dem Vorrangs- und Beschleunigungsgebot vereinbar. In concreto wurde dies bejaht, allerdings nur unter Berücksichtigung der besonders intensiven Ausnutzung der vorhandenen Verfahrensmöglichkeiten durch die Mutter.
Der Fall gibt Anlass, einen Ausblick auf die Zukunft des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronische Akte zu werfen. In dem besprochenen Verfahren spielte die Aktenweitergabe und -versendung (beispielsweise an den Sachverständigen) eine den zeitlichen Ablauf beeinflussende Rolle. Dadurch bedingte Wartezeiten sollten beim elektronischen Rechtsverkehr nicht mehr auftreten. Mit einer elektronischen Akte wird mehreren Personen gleichzeitig die Arbeit mit der Akte ermöglicht. Auch die Verfahrensakten (sechs Bände samt beigezogener Akten des AG Tempelhof-Kreuzberg) dürften elektronisch besser beherrschbar sein als nicht-elektronisch, was zu einer schnelleren Bearbeitung beitragen kann.