Nachfolgend ein Beitrag vom 1.3.2016 von Götsche, jurisPR-FamR 5/2016 Anm. 5

Leitsätze

1. Zur Erwerbsobliegenheit eines Selbstständigen mit geringen Einkünften.
2. Könnte der nicht betreuende, an sich allein barunterhaltspflichtige Elternteil auch bei Zahlung des vollen Unterhalts seinen angemessenen Selbstbehalt noch wahren, kommt gleichwohl die volle Haftung des betreuenden Elternteils in Betracht, wenn dieser etwa das Dreifache des nicht betreuenden Elternteils verdient (Anschluss BGH, Urt. v. 10.07.2013 – XII ZB 297/12).

A. Problemstellung

Die gesteigerte Unterhaltspflicht des barunterhaltspflichtigen Elternteils gegenüber minderjährigen und privilegierten volljährigen Kindern entfällt nach § 1603 Abs. 2 Satz 3 BGB dann, wenn ein anderer leistungsfähiger Verwandter – vor allem der betreuende Elternteil – vorhanden ist. Problematisch ist die Reichweite dieser Norm, insbesondere die Frage, ob die Verpflichtung des barunterhaltspflichtigen Elternteils vollständig erlöschen kann.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die minderjährigen Antragsteller begehren von der Antragsgegnerin, ihrer Mutter, Unterhalt. Die Antragsgegnerin ist Rechtsanwältin, der in der Schweiz lebende Vater der Antragsteller ist Arzt. Die Antragsgegnerin nahm nach der Trennung der Kindeseltern in 2009 eine Tätigkeit als angestellte Rechtsanwältin, zunächst in Vollzeit, später in Teilzeit mit einem 30-Stundenvertrag auf. Das Arbeitsverhältnis wurde von Seiten des Arbeitgebers zum 01.11.2013 gekündigt. Zum 01.12.2013 machte sie sich mit einer eigenen Kanzlei selbstständig. Zu diesem Zeitpunkt lebten beide Antragsteller bei der Antragsgegnerin. Im Sorgeverfahren vereinbarten der Vater und die Antragsgegnerin vor dem Oberlandesgericht am Anfang 2014 den Wechsel der Antragsteller in den Haushalt des Vaters.
Die Antragsgegnerin verdiente in ihrer Tätigkeit als angestellte Rechtsanwältin zuletzt netto 1.777,51 Euro. Nach Eintritt in die Selbstständigkeit hat sich zuletzt ihr Einkommen deutlich vermindert, unter Berücksichtigung eines in 2013 aufgenommenen Kredits beträgt ihr Verdienst als Selbstständige weniger als 1.000 Euro im Monat. Der Vater der Antragsteller verdient monatlich über 11.000 Euro.
Das OLG Dresden verneint die Unterhaltspflicht der Antragsgegnerin. Zum einen sei sie tatsächlich leistungsunfähig und zum anderen sei ihr ein Verstoß gegen die Erwerbsobliegenheit nicht vorzuwerfen.
Dafür sei zunächst zu berücksichtigen, dass der Antragsgegnerin die Aufgabe der unselbstständigen Tätigkeit nicht vorgeworfen werden könne. Die Kündigung habe der Arbeitgeber ausgesprochen. Zu diesem Zeitpunkt war die Antragsgegnerin auch nicht barunterhaltspflichtig für die bei ihr noch lebenden Antragsteller. Vor diesem Hintergrund sei die Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit nicht vorwerfbar. Erst wenn sich keine deutliche Einkommensverbesserung in der Zukunft ergebe, werde u.U. eine Pflicht zur Aufgabe der selbstständigen Tätigkeit in Betracht kommen. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass eine neugegründete Anwaltskanzlei häufig nicht bereits innerhalb von zwei Jahren hohe Erträge aufweise. Der Aufbau eines Mandantenstammes gestalte sich oft langwierig. Dafür bestünden nach einigen Jahren Aussichten, so viel zu verdienen, dass die Leistungsfähigkeit für den Kindesunterhalt langfristig gut gesichert sei.
Unabhängig von der Leistungsunfähigkeit sei zudem zu berücksichtigen, dass das Einkommen des Vaters der Antragsteller so gut sei, dass er den Barunterhalt allein tragen müsse. Auch der betreuende Elternteil komme als anderer unterhaltpflichtiger Verwandter in Betracht, wenn er in der Lage ist, unter Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen neben der Betreuung des Kindes auch dessen Barunterhalt ohne Gefährdung des eigenen angemessenen Selbstbehaltes aufzubringen. Um die Regel der Gleichwertigkeit von Bar- und Betreuungsunterhalt (§ 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB) dabei nicht ins Leere laufen zu lassen, setze dies zusätzlich voraus, dass ohne die Beteiligung des betreuenden Elternteils am Barunterhalt ein erhebliches finanzielles Ungleichgewicht zwischen den Eltern entstehen würde. Kann der barunterhaltspflichtige Elternteil auch bei Zahlung des vollen Kindesunterhalts seinen angemessenen Selbstbehalt noch verteidigen, wird eine vollständige Haftung des betreuenden Elternteils für die Aufbringung des Barunterhalts nur in wenigen, besonderen Ausnahmefällen in Betracht kommen (BGH, Urt. v. 10.07.2013 – XII ZB 297/12 – FamRZ 2013, 1558). Wenn allerdings der betreuende Elternteil etwa über das Dreifache der unterhaltsrelevanten Nettoeinkünfte des an sich barunterhaltspflichtigen Elternteils verfügt, kann es regelmäßig der Billigkeit entsprechen, den betreuenden Elternteil auch den Barunterhalt für das Kind in voller Höhe aufbringen zu lassen.

C. Kontext der Entscheidung

Der Wechsel in die Selbstständigkeit und deren Fortführung ist auch bei einer gesteigerten Erwerbsobliegenheit nicht generell vorwerfbar, sondern eine Frage des Einzelfalls. Es bedarf, insbesondere wenn nicht einmal der Unterhalt minderjähriger Kinder in Höhe des Mindestunterhalts sichergestellt wäre, einer umfassenden Interessenabwägung. Die Aufnahme der Selbstständigkeit zu einer Zeit, in der noch keine Barunterhaltpflicht bestand, wird regelmäßig nicht vorwerfbar sein. Bei schlechten Einkünften ist dann zwar die Tätigkeit aufzugeben, aber dem Unterhaltspflichtigen ist zusätzlich eine Karenzzeit zuzubilligen, die bis zu zwei Jahre betragen kann (Dose in: Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 9. Aufl., § 1 Rn. 769).
Ein anderer leistungsfähiger Verwandter kann die gesteigerte Erwerbsobliegenheit des Unterhaltspflichtigen entfallen lassen, § 1603 Abs. 2 Satz 3 BGB. Dieser andere Verwandte kann allerdings auch der andere Elternteil sein:
Dies gilt immer dann, wenn beide Elternteile barunterhaltspflichtig sind, insbesondere also
– gegenüber privilegiert volljährigen Kindern nach § 1603 Abs. 2 Satz 2 BGB (BGH, Urt. v. 12.01.2011 – XII ZR 83/08 – FamRZ 2011, 454);
– gegenüber minderjährigen Kindern beim echten Wechselmodell (BGH, Urt. v. 21.12.2005 – XII ZR 126/03 – FamRZ 2006, 1015) oder wenn beide Eltern für einen Mehrbedarf des Kindes haften (BGH, Urt. v. 26.11.2008 – XII ZR 65/07 – FamRZ 2009, 962).
Aber selbst ein nicht barunterhaltspflichtiger Elternteil kommt als anderer leistungsfähiger Verwandter in Betracht, also insbesondere der das Kind betreuende Elternteil. Voraussetzung dafür ist ein erhebliches finanzielles Ungleichgewicht zwischen den Eltern (BGH, Urt. v. 19.11.1997 – XII ZR 1/96 – FamRZ 1998, 286, 287 f.). Grundsätzlich wird der Barunterhaltspflichtige dann lediglich von seiner gesteigerten Erwerbsobliegenheit befreit, er haftet dann also mit dem angemessenen Selbstbehalt. Ist dieses finanzielle Ungleichgewicht sogar außergewöhnlich hoch, kann sogar die Barunterhaltspflicht des einkommensschwächeren Elternteils insgesamt entfallen.

D. Auswirkungen für die Praxis

Für die Einkommensdifferenz zur Befreiung von der gesteigerten Obliegenheit bis zur vollen Barunterhaltspflicht kann man sich grob an folgenden Grundsätzen orientieren:
– der andere Elternteil/Verwandte hat das 2- bis zu 3-fache Nettoeinkommen des barunterhaltspflichtigen Elternteils = die gesteigerte Erwerbsobliegenheit entfällt (OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.02.2011 – 10 UF 106/10 – FamFR 2011, 176);
– der andere Elternteil hat mehr als das 3-fache Nettoeinkommen des barunterhaltspflichtigen Elternteils = die Barunterhaltspflicht entfällt vollständig, der einkommensstarke Elternteil haftet allein.