Nachfolgend ein Beitrag vom 16.2.2016 von Clausius, jurisPR-FamR 4/2016 Anm. 1

Orientierungssatz

Jedenfalls mit Vollendung des zwölften Lebensjahres eines Kindes bildet der Kindeswille im Hinblick auf die Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf einen Elternteil eine relativ zuverlässige Entscheidungsgrundlage, die aber die Untersuchung und Gewichtung der übrigen Kindeswohlkriterien nicht ausschließt, sodass der geäußerte Wille des Kindes nicht den Ausschlag geben kann

A. Problemstellung

Das OLG Brandenburg setzt sich mit der Frage auseinander, ob und unter welchen Voraussetzungen der Wohnsitzwechsel eines 12-jährigen Kindes auf dessen Willen gestützt werden kann.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Für den nichtehelich geborenen Sohn, der seit der Trennung seiner Eltern 2006 im Haushalt der Mutter lebte und mit seinem Vater regelmäßig am Wochenende und in den Ferien Umgang ausübte, beantragte der Vater die gemeinsame Sorge sowie die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts. Das Ausgangsgericht hat eine gemeinsame Sorge hergestellt, aber den Antrag auf Übertragung des Aufenthaltsrechts zurückgewiesen. Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Vaters blieb erfolglos.
Zur Begründung hat das OLG Brandenburg ausgeführt, dass derzeit die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts allein auf den Vater dem Kindeswohl nicht entspreche. Beide Elternteile seien grundsätzlich erziehungsgeeignet und wiesen ein hohes Interesse an dem Sohn auf. Die schulische Förderung obliege bislang allein der Mutter, doch stimme sie zu, dass der Vater sich im Rahmen eines erweiterten Umgangs auch hierin erproben könne. Einschränkend sei mit Blick auf die Feinfühligkeit beider Eltern zu sehen, dass sie das Kind als Boten für Nachrichten an den anderen Elternteil einsetzten, wobei zudem aber der Vater auch eine nur eingeschränkte Neigung besitze, Bindungen des Kindes an die Mutter zu fördern. Bei der zu treffenden Entscheidung komme dem Kontinuitätsgrundsatz hohe Bedeutung bei. Die Mutter sei seit 2006 wesentliche Bezugsperson für das Kind und erziehe es gemeinsam mit ihrem nunmehrigen Ehemann konsequent. Sie setze sich aktiv für eine gute Schulausbildung ein. Eine solche Kontinuität bestehe bislang beim Vater nicht, da sich die Besuche bei ihm auf das Wochenende und die Ferienzeit beschränkten.
Ab dem vollendeten 12. Lebensjahr des Kindes bilde dessen Wille zwar eine relativ zuverlässige Entscheidungsgrundlage, die jedoch die Gewichtung der übrigen Kindeswohlkriterien nicht ausschließe. Im konkreten Fall lasse der wiederholt geäußerte Wille des Kindes, zum Vater zu ziehen – bei gleichzeitig erkennbar engen Bindungen zur Mutter und deren Familie – gegenwärtig noch nicht den Schluss zu, dass es dem Kindeswohl besser entspreche, wenn der Vater das Aufenthaltsbestimmungsrecht allein ausübe, da bislang ein ständiger Aufenthalt beim Vater im Schulalltag noch nicht habe ausprobiert werden können. Es liege daher nahe, den Umgang mit dem Vater auszudehnen. Eine umfassende Änderung der stabilen Lebenssituation des Kindes ohne vorherige schrittweise Erweiterung des Umgangs sei derzeit aber dem Kindeswohl nicht dienlich.

C. Kontext der Entscheidung

Die Entscheidung des OLG Brandenburg setzt sich umfassend mit den für die Kindeswohlprüfung maßgeblichen Kriterien im Rahmen des § 1671 Abs. 1 Nr. 2 BGB auseinander. Neben dem Kontinuitätsgrundsatz, dem Förderungsprinzip sowie den Bindungen des Kindes zu seinen Eltern und seinen Geschwistern, ist letztlich der Kindeswille selbst zu beachten. Diese Kriterien stehen nicht kumulativ nebeneinander, sondern können sich gegenseitig verstärken oder sogar aufheben (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 20.01.2011 – 6 UF 106/10 – FamRZ 2011, 1153). Gerade bei älteren Kindern kann daher dem erklärten Willen besondere Bedeutung zukommen, d.h. die Willensäußerung ist als Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung zu sehen (BVerfG, Beschl. v. 18.05.2009 – 1 BvR 142/09 – FamRZ 2009, 1389), die zudem indizielle Bedeutung für Bindungen und Neigungen haben kann. Dieser besonderen Bedeutung des Kindeswillens wird verfahrensrechtlich sowohl durch die in § 159 FamFG vorgesehene Anhörung des Kindes als auch dem nach § 60 FamFG gewährten Beschwerderecht eines Kindes ab seinem vollendeten 14. Lebensjahr Rechnung getragen. Gleichwohl muss bei der Gewichtung des Kindeswillens aber auch berücksichtigt werden, dass er möglicherweise Ausdruck eines Loyalitätskonfliktes ist (OLG Köln, Beschl. v. 28.08.2008 – 4 UF 102/08 – FamRZ 2009, 434) oder von unrealistischen Vorstellungen getragen wird und damit in seiner Bedeutung nur von eingeschränkter Wertigkeit ist (OLG Hamm, Beschl. v. 15.11.2010 – 8 WF 240/10 – FamRZ 2011, 1151). Nur wenn zwischen subjektivem Kindeswillen und objektivem Kindeswohl eine Deckungsgleichheit besteht, kommt dem Kindeswillen streitentscheidende Bedeutung zu (KG Berlin, Beschl. v. 01.07.2005 – 13 UF 199/04 – FamRZ 2005, 1768).

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Entscheidung des OLG Brandenburg führt erneut eindrucksvoll vor Augen, dass ein Elternteil mit der Beantragung eines Aufenthaltswechsels des Kindes, der allein auf dessen Willen gestützt wird, äußerst sorgfältig umgehen sollte. Allzu häufig wird bei solchen Anträgen ausgeblendet, dass der geäußerte Wille im räumlichen Umfeld des jeweiligen Elternteils erfolgte und damit nicht zwingend deckungsgleich sein muss mit dem Willen, den das Kind äußert, wenn es sich in einem neutralen Umfeld bewegt. Bevor daher eine Aufenthaltsänderung beantragt wird, die auf den erklärten Willen eines Kindes gestützt wird, sollte der antragstellende Elternteil sehr kritisch hinterfragen, wie sich dieser erklärte Wille bei objektiver Bewertung darstellt und er einer objektiven Überprüfung standhält. Die regelmäßig „befürchtete“ Belastung des Kindes durch die richterliche Anhörung steht ebenso regelmäßig in kausalem Zusammenhang mit einem möglicherweise leichtfertig eingereichten Antrag.

Beachtlichkeit des Wunsches eines 12-jährigen Kindes auf Aufenthaltswechsel zum Vater
Birgit OehlmannRechtsanwältin
  • Fachanwältin für Erbrecht
  • Zertifizierte Testamentsvollstreckerin (AGT)

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