Nachfolgend ein Beitrag vom 13.9.2016 von Viefhues, jurisPR-FamR 19/2016 Anm. 3

Leitsätze

1. Ein Anspruch auf Ausbildungsunterhalt kann auch dann bestehen, wenn die unterhaltsberechtigte Tochter ihre Erstausbildung erst neun Jahre nach Abschluss ihrer Schulausbildung aufnimmt, weil sie für jeweils drei Jahre ihre beiden Kinder selbst betreut hat und sodann zeitnah keinen Ausbildungsplatz finden konnte.
2. Die dem unterhaltsberechtigten Kind gezahlte Berufsausbildungsbeihilfe (§§ 56 ff. SGB III) ist nach Abzug der darin enthaltenen Kinderbetreuungskosten (§ 64 Abs. 3 Satz 1 SGB III) bedarfsdeckend anzurechnen.

A. Problemstellung

Volljährige Kinder, die Ausbildungsunterhalt geltend machen wollen, sind grundsätzlich gehalten, ihre Ausbildung so schnell wie möglich zu beginnen, fleißig und zielstrebig durchzuführen und innerhalb angemessener Zeit erfolgreich abzuschließen, wenn sie ihren Unterhaltsanspruch nicht gefährden wollen. Bei der Anwendung dieser auf den ersten Blick klaren Grundsätze ergeben sich in der Praxis jedoch nicht selten Probleme und Unklarheiten.
Das OLG Celle behandelte einen Fall, in dem die Ausbildung mit erheblicher Verzögerung aufgenommen worden ist.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die 1989 geborene Tochter hat im Jahr 2005 die Schule mit dem Hauptschulabschluss beendet und danach die Berufsschule besucht, um dort den Realschulabschluss zu erzielen. Infolge ihrer Schwangerschaft musste sie die dortige Ausbildung jedoch abbrechen.
Am 02.02.2006 wurde ihre Tochter geboren, die sie in der Folge überwiegend betreute. Zum Schuljahr 2007/2008 nahm sie eine Ausbildung an der Berufsfachschule auf, die sie jedoch nach ihrem Vorbringen wegen einer Überforderung neben der Kinderbetreuung ebenso abbrechen musste wie die im September 2008 begonnene Ausbildung zur Restaurantfachfrau. Seit Februar 2009 erhielt sie Leistungen nach dem SGB II. Am 30.09.2010 wurde eine weitere Tochter geboren, die sie in der Folgezeit betreute. Von August 2009 bis August 2013 lebte sie mit dem Kindesvater einer der Kinder zusammen. Ab September 2014 hat sie eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau aufgenommen, wobei sie im ersten Lehrjahr eine Ausbildungsvergütung von 316 Euro bezog. Sie macht von diesem Zeitpunkt an Unterhalt gegen ihren Vater geltend und hat Verfahrenskostenhilfe beantragt, die ihr vom Familiengericht verweigert wurde.
Das OLG Celle hat Verfahrenskostenhilfe bewilligt.
Zwar müsse sich das unterhaltsberechtigte Kind alsbald um einen entsprechenden Ausbildungsplatz bemühen und unter Berücksichtigung einer gewissen Orientierungsphase die Ausbildung beginnen und diese zielstrebig durchführen. Wenn jedoch das unterhaltsberechtigte Kind nach Schulabgang seine Lebensverhältnisse eigenständig und unabhängig von den Eltern gestaltet habe, könne es den unterhaltspflichtigen Eltern unzumutbar sein, weiterhin für den Unterhaltsbedarf des Kindes aufzukommen (vgl. BGH, Urt. v. 14.03.2001 – XII ZR 81/99 – FamRZ 2001, 757; BGH, Urt. v. 04.03.1998 – XII ZR 173/96 – FamRZ 1998, 671, 672).
Eine feste Altersgrenze, bis zu der eine Ausbildung aufgenommen worden sein müsse, bestehe jedoch nicht (BGH, Urt. v. 29.06.2011 – XII ZR 127/09 – FamRZ 2011, 1560; BGH, Urt. v. 04.03.1998 – XII ZR 173/96 – FamRZ 1998, 671, 672; OLG Stuttgart, Urt. v. 06.07.1995 – 16 UF 94/95 – FamRZ 1996, 181). Maßgeblich seien hierfür die jeweiligen Gesichtspunkte des Einzelfalls sowie der Umstand, ob den Eltern die Zahlung von Ausbildungsunterhalt in den Grenzen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auch zu einem späteren Zeitpunkt noch zuzumuten sei. Insbesondere dann, wenn das unterhaltsberechtigte Kind selbst ein eigenes Kind betreue, bestehe keine Erwerbsobliegenheit bis zum dritten Lebensjahr eines Kindes. Daher verliere das unterhaltsberechtigte Kind den Ausbildungsunterhaltsanspruch gegen seine Eltern auch nicht deshalb, weil es infolge einer Schwangerschaft und der sich anschließenden Kinderbetreuung seine Ausbildung nur verzögert beginnen konnte (vgl. Viefhues in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 7. Aufl., § 1610 Rn. 98 ff.). Die Betreuung eines oder mehrerer Kinder in den ersten drei Lebensjahren stelle folglich keine Obliegenheitsverletzung des unterhaltsberechtigten Kindes dar.
Auch angesichts der besonderen Bedeutung der hier vorliegenden beruflichen Erstausbildung sei eine Obliegenheitsverletzung der Tochter zu verneinen. Der Umstand, dass seit Abschluss ihrer Hauptschulklasse im Jahr 2005 bis zur Aufnahme ihrer Ausbildung etwa neun Jahre vergangen seien, stehe einer Unterhaltsverpflichtung nicht entgegen. Sie verfüge bisher über keine abgeschlossene Berufsausbildung und gehe seit September 2014 ihrer Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau zielstrebig nach. Sie sei Mutter zweier im Februar 2006 sowie im September 2010 geborener Töchter. Bereits die Zeiten der vorangegangenen Schwangerschaften seien für die damals minderjährige Antragstellerin mit besonderen Belastungen und Herausforderungen verbunden gewesen. Darüber hinaus habe sie ihre beiden Kinder überwiegend selbst betreut und versorgt. Die hiermit verbundenen Belastungen könnten – jedenfalls für die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe – auch als hinreichender Grund dafür angesehen werden, dass sie ihre begonnenen Ausbildungen abgebrochen habe.
Dem Antragsgegner sei die Geburt seiner Enkeltochter bekannt gewesen, sodass er mit einer Verzögerung der Ausbildung ebenso wie mit einer weiteren finanziellen Inanspruchnahme auf Ausbildungsunterhalt rechnen musste.

C. Kontext der Entscheidung

Die Entscheidung deckt sich mit der Rechtsprechung des BGH, nach der z.B. dem volljährigen Kind ein Anspruch auf Ausbildungsunterhalt zusteht, wenn es nach dem Abitur ein freiwilliges soziales Jahr absolviert, ein danach geborenes Kind für drei Jahre betreut und sodann ein Studium aufnimmt (vgl. BGH, Urt. v. 29.06.2011 – XII ZR 127/09 – FamRZ 2011, 1560 mit Anm. Viefhues, FF 2011, 412). Auch andere Gerichte lassen den Unterhaltsanspruch nicht an einer längeren Wartezeit zwischen Ende der Schule und Beginn der Ausbildung oder des Studiums scheitern (so bei einer Wartezeit von fünf Jahren bis zum Beginn des Studium der Zahnmedizin, wenn sich das Kind seit dem Abitur kontinuierlich um einen Studienplatz beworben hat (OLG Hamm, Beschl. v. 12.03.2012 – II-4 UF 232/11, 4 UF 232/11 – FuR 2012, 669; OLG Jena, Beschl. v. 11.02.2015 – 1 WF 35/15 – FuR 2015, 614 bei einer Aufnahme der Ausbildung sieben Jahre nach dem Realschulabschluss, wenn die unterhaltsberechtigte Tochter in dieser Zeit vier Kinder bekommen und diese nach der Geburt betreut hat)).

D. Auswirkungen für die Praxis

Für die Praxis ist zu beachten, dass vorrangig die Väter der Kinder der anspruchstellenden Tochter für deren Unterhalt gemäß § 1615l BGB einzustehen haben und für den Ausbildungsunterhalt nach § 1610 BGB beide Eltern des volljährigen Kindes anteilig haften. Daher muss – worauf das OLG Celle zutreffend hinweist – die Antragstellerin ebenfalls darlegen und ggf. unter Beweis stellen, dass sowohl ihre Mutter als auch die Väter ihrer beiden Töchter unterhaltsrechtlich nicht für den Lebensbedarf der Antragstellerin leistungsfähig sind.
Soweit sie Unterhaltsrückstände verlangt, muss sie darlegen und ggf. beweisen, wann sie ihren Vater zur Auskunft über seine Einkünfte und Vermögen (§ 1613 Abs. 1 BGB) aufgefordert hat.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Die Antragstellerin erhält eine Berufsausbildungsbeihilfe nach den §§ 56 ff. SGB III. Auszubildende haben Anspruch auf eine Beihilfe während einer Berufsausbildung, wenn die Berufsausbildung förderungsfähig ist (§ 57 SGB III), sie zum förderungsfähigen Personenkreis i.S.v. § 59 SGB III gehören und die sonstigen persönlichen Voraussetzungen für eine Förderung nach § 60 SGB III erfüllt sind und ihnen die erforderlichen Mittel zur Deckung des Bedarfs für den Lebensunterhalt, die Fahrkosten und die sonstigen Aufwendungen (Gesamtbedarf) nicht anderweitig zur Verfügung stehen. Dabei orientiert sich der Bedarf gemäß § 61 SGB III nach den für Studierende geltenden Sätzen nach § 13 Abs. 1 BAföG.
In dem Gesamtbedarf der Antragstellerin ist ein Betrag von 260 Euro für Kinderbetreuungskosten enthalten. Denn nach § 64 Abs. 3 Satz 1 SGB III werden bei einer Berufsausbildung und einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme als Bedarf für sonstige Aufwendungen die Kosten für die Betreuung der aufsichtsbedürftigen Kinder der Auszubildenden i.H.v. 130 Euro monatlich je Kind zugrunde gelegt. Nach Abzug dieser Beträge ist die Berufsausbildungsbeihilfe noch mit 169 Euro bedarfsdeckend in Ansatz zu bringen.